piwik no script img

GroßbritannienAnti-Terror-Chef "undiszipliniert"

Wegen U-Bahn-Mord: Bericht fordert Verfahren gegen Londons Top-Terror-Bekämpfer.

Gedenken an den erschossenen Jean Charles de Menezes Bild: ap

DUBLIN taz Er muss mit einem Disziplinarverfahren rechnen, weil er seinen Chef belogen hat. Andy Hayman, ranghöchster Antiterrorismuspolizist der britischen Hauptstadt London, wird als Einziger für die versehentliche Erschießung des 27-jährigen Brasilianers Jean Charles de Menezes in einer U-Bahn vor zwei Jahren zur Rechenschaft gezogen. Das empfiehlt die unabhängige Beschwerdestelle der Polizei in einem gestern veröffentlichten Bericht. Sie wirft Hayman vor, Londons Polizeichef Ian Blair 24 Stunden im Glauben gelassen zu haben, de Menezes sei ein Terrorist gewesen.

Der Brasilianer, der in London als Elektriker gearbeitet hatte, wurde am 22. Juli 2005 im Londoner U-Bahnhof Stockwell von einer Antiterroreinheit durch sieben Kopfschüsse getötet. Zunächst hatte die Polizei erklärt, de Menezes habe in Zusammenhang mit den Anschlägen auf drei U-Bahnen und einen Bus am Tag zuvor gestanden. Dabei hatte es keine Opfer gegeben, weil die Bomben nicht explodiert waren, anders als den Anschlägen am 7. Juli. Die Beamten waren bei der Untersuchung der Rucksäcke mit den Bomben auf eine Adresse im Londoner Viertel Tulse Hill gestoßen. In dem Apartmentblock wohnte auch de Menezes.

Als er das Haus verließ, folgten die Beamten ihm zur U-Bahn. Er trug weder eine auffällig dicke Jacke, wie zunächst behauptet, noch sprang er über die U-Bahn-Absperrung oder rannte vor der Polizei weg. Er saß ahnungslos im U-Bahn-Abteil, als er regelrecht hingerichtet wurde. Es war das erste Mal, dass die Richtlinien aus dem Jahr 2003 angewandt wurden, wonach die Polizei bei Verdacht auf einen Selbstmordattentäter gezielte Todesschüsse abgeben darf.

Bereits wenige Stunden nach der Erschießung soll Hayman klar gewesen sein, dass man einen Fehler gemacht hatte. Doch er verheimlichte das vor seinem Chef Ian Blair, der die falschen Informationen daraufhin auf einer Pressekonferenz verkündete. Der Untersuchungsbericht spricht Blair von jeder Schuld frei. Die Vertuschung kam heraus, weil Lana Vandenberghe, Mitarbeiterin der Beschwerdestelle, den Fernsehsender ITV über die wahren Ereignisse informierte. ITV sendete eine Dokumentation. Kurz darauf wurden Vandenberghe, der ITV-Produzent Neil Garrett und dessen schwangere Freundin verhaftet. Zu einer Anklage kam es nicht.

Andy Hayman, der Anfang 2005 zum Antiterrorismus-Chef der Londoner Polizei ernannt wurde, ist nicht nur wegen des Falls de Menezes umstritten. Im vorigen Jahr musste er sich bei zwei Brüdern entschuldigen, die in London im Zuge der Terrorismusfahndung verhaftet und eine Woche lang festgehalten worden waren. Einer der Brüder war dabei angeschossen worden. Der Verdacht gegen sie stellte sich als falsch heraus. Vorigen Monat wurde der schwarze Polizist Ali Dizaei vom Vorwurf der Korruption freigesprochen. Sein Telefon war jahrelang abgehört worden, Kollegen hatten ihn auf Anordnung von Hayman beobachtet. Ein Tribunal stellte vor kurzem fest, dass das gesetzwidrig war.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!