Grenzen von Familienpolitik: Volksheim und Shoppingmall
Wolfgang Streeck, Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts, sprach über Familien- als Geburtenpolitik und dass wachsende Ungleichheit und Armut mit Familienpolitik nicht zu lösen sind.
Spätestens mit der Wirtschafts- und Finanzkrise ist deutlich geworden, dass sich damit Grundfragen des sozialen Zusammenhalts und Probleme der politischen Umsteuerung der Sozialordnung dringend stellen. Unter dem Titel "Gemeinsam im Niemandsland. Auf der Suche nach einer neuen Sozialordnung" organisiert das Frankfurter Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Axel Honneth eine Vortragsreihe im Rahmen der von der BHF-Bank-Stiftung gesponserten Aktion "Frankfurter Positionen".
Den zweiten Vortrag im gesellschaftstheoretischen Rahmenprogramm bestritt Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Der Soziologe sprach in seinem brillanten Vortrag am Mittwoch über "Volksheim oder Shoppingmall? Die Reproduktion der Gesellschaft im Dreieck von Markt, Sozialstruktur und Politik."
Die immer stärkere Durchdringung der gesamten Gesellschaft durch den Markt untergräbt traditionelle soziale Verhältnisse und Beziehungen. Besonders betroffen davon sind zunächst die "Marktfernen" - also Frauen, Kinder und Familien. Wenn die Familien nicht mehr in der Lage oder nicht mehr willens sind, die traditionell von der Familie erbrachten Leistungen zu erbringen, entsteht Bedarf an staatlichen Ersatzleistungen. Dabei stellt sich die Frage der Finanzierung dieser Leistungen ebenso wie die nach dem normativen Rahmen, innerhalb dessen der Staat für die Familie einspringt.
Streeck illustrierte das am Beispiel der Frauenemanzipation. Sie bedeutete zunächst, dass ab den 60er Jahren mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt drängten, mit dem rundum berechtigten Anspruch, ihr Leben selbst zu bestimmen und selbst zu verdienen. Das hatte freilich zwei Folgen: Die Geburtenrate ging zurück, weil die Zeit für Kinder fehlte, und die schlechter bezahlten Frauen wurden zu Konkurrenten der männlichen Alleinverdiener. Wegen des höheren Angebots an Arbeitskräften sanken die Löhne der Männer, was wiederum die Position der Gewerkschaften schwächte. Märkte verursachen auch soziale Dysfunktionen.
Soweit die sozialstaatlichen Systeme an die Lohneinkommen und die Zahl der Beitragszahler gebunden sind, werden sinkende Geburtenraten eine Gefahr für den Standard der sozialstaatlichen Sicherung. Diese Einsicht brachte den Sozialstaat dazu, mit seinen Mitteln auf die Geburtenrate einzuwirken, also Familienpolitik als Geburtenpolitik zu betreiben. Das jüngste Ergebnis dieser Politik ist das Elterngeld. Sobald der Sozialstaat aber glaubt, Familienpolitik mit bevölkerungspolitischen Mitteln lösen zu können, sitzt er einer gefährlichen Illusion auf und begibt sich in eine Falle: Erwünscht hohe Kinderzahlen bei den Gutsituierten kann er nicht bezahlen, und Geburten in armen Familienverhältnissen oder von alleinstehenden Frauen kann er nicht verbieten.
Der Sozialstaat vermag also nicht zu verhindern, dass verarmte Teile der Gesellschaft familienpolitisch gemeinte Maßnahmen als Anreize zum Kinderkriegen verstehen und das Elterngeld als Einkommensquelle entdecken k ö n n e n, nicht müssen. Man diffamiert "Hartz-IV-Mütter" als parasitäre "Niedrigleister" (Gunnar Heinsohn) und füttert gleichzeitig die Ängste im Justemilieu, es müsse die Armen ernähren und werde obendrein "überfremdet" durch den Nachwuchs von Ausländern und Einwanderern.
Im Gegensatz zur populistischen und neoliberalen Mobilisierung von demografischen Argumenten zur Sozialstaatskritik und zur Weckung von Ressentiments gegen "Kopftuchmädchen" (Thilo Sarrazin), die nur Kinder kriegen könnten, kritisierte Streeck den Versuch, Familienpolitik bevölkerungspolitisch zu begründen, als politisch unannehmbar wie aussichtslos.
"Marktorientierte Sozialeugenik", wie sie jüngst propagiert wurde, ist keine Lösung, sondern eine Gefahr. Wachsende Ungleichheit und Armut, so Streeck, sind nicht mit Familienpolitik zu lösen, sondern nur mit Sozial- und Bildungspolitik, also mit einer Politik der Chancengleichheit und Solidarität. Die Bedingungen für eine solche Politik sind freilich nicht ein für allemal gegeben, sondern wandeln sich. Insofern ist das schwedische Modell aus den 60er Jahren, das Frauen Beschäftigung und Kindern Betreuung garantierte, nicht mehr auf heute und nicht auf die BRD übertragbar, ganz abgesehen davon, dass es auch in Schweden nicht gelungen ist, die Geburtenrate mit staatlichen Mitteln zu heben. Fazit: Nötig ist eine Neubestimmung des Verhältnisses von Markt, Sozialstruktur und Politik.
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