: Greisinnengerüche live
■ Der Hamburger Autor Marc Worthmann präsentiert im Blauen Affen sein Roman-Debüt „Der Witwentröster“
Der Hamburger Marc Worthmann stellt jetzt sein Roman-Debüt Der Witwentröster vor. Darin tritt der 19-jährige Jan Oltrogge Mitte der Achtziger seinen Zivildienst im Luisenstift in Altona an. Post-Pubertäre-Phase, sagt die Erfahrung, nachts treibt er sich der Bengel auf St. Pauli herum, um seine gerade wiedergewonnene Körperkontrolle vor anderen unter Beweis zu stellen. Nicht so in Marc Worthmanns Roman Der Witwentröster. Der Protagonist und Ich-Erzähler erkennt seine Berufung zum Witwentröster und verlässt fortan das Luisenstift nicht mehr, um sich seinem Daseinszweck zu widmen. Schlüsselerlebnis für Jan Oltrogges Entdeckung seiner Berufung ist übrigens der Gestank im Altenwohnheim. Eindrucksvoll und manchmal schwer verdaulich schildert Worthmann die Gerüche des Altersheims, ihre Entstehung und den Umgang mit ihnen. Dieser intensive Gestank ist es, der den jungen Mann zu der Annahme verleitet, dass die Frauen Mangel leiden. Eine Tatsache, die er schon in der etymologischen Herleitung des Wortes „Witwe“ erkennt: „Witwe“, lateinisch „Vidua“, „die ihres Mannes Beraubte“, indogermanisch „uidheua“, zu „uigh“, „leer werden“, „Mangel haben“.
Hinter dem Rücken der Schwes-tern, macht sich Jan hingebungsvoll an die Arbeit, den Mangel jeder einzelnen Witwe zu ergründen, um ihn dann zu ersetzen. Ein immer hysterischeres Spiel um die Geheimnisse, Ängste und Verluste der 45 Frauen im Luisenstift beginnt, an dem die LeserInnen ebenso konzentriert teilnehmen müssen, wie der Witwentröster selbst, um das Spiel zu durchschauen.
So entsteht einerseits das Porträt einer ganzen Generation, andererseits bleiben die LeserInnen der Perspektive des jungen Oltrogges verhaftet, der sich immer mehr in seinem eigenen „Mangel“ verfängt. Obwohl Marc Worthmann in seinem Roman zwei gänzlich unattraktive gesellschaftliche Randthemen – Gerontophilie und den Umgang mit alten Menschen – behandelt, ist ihm ein beeindruckendes, interessantes Debüt gelungen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Hamburger Autor die Zustände nicht anprangert, sondern einen ungewöhnlichen Blick auf sie wirft. Schrullig ist aber nicht nur Worthmanns Buch, sondern auch der Blaue Affe, in dem die heutige Lesung stattfindet. Seit Anfang März existiert der Buchladen neben dem Hans-Albers-Platz, also mitten in St. Pauli. Eingekeilt von Sauf- und Tanzspelunken, werden zu kiez-typischen Zeiten aber nicht einfach „normale“ Bücher verkauft. Der Lesestoff, der hier über den Ladentisch geht, kommt ausschließlich aus Klein-Verlagen und ist im gewöhnlichen Buchhandel selten zu bekommen: Ungewöhnliche Science-Fiction-Reihen, exzentrische Fachbücher, skurrile Comics und Prosa. Das Durchstöbern der Regale ist bereits ein Erlebnis, die Welten der rund 70 Klein-Verlage lesend zu ergründen noch ein ganz anderes. Lisa Scheide
Lesung: 21 Uhr, Blauer Affe, Friedrichstraße 28. Geöffnet Mo–Sa 13–22 Uhr
Marc Worthmann Der Witwentröster, Kiepenheuer & Witsch, 19,90 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen