Grandiose Auszeichnung: "Märchenbau aus rotem Backstein"
Der Bremer Hauptbahnhof ist ein Juwel der Neorenaissance, ein Ort großer Emotionen und Proportionen - und doch ein Nichts, verglichen mit der Formulierungskunst der Fahrgast-Jury
BREMEN taz | Natürlich ist der Bremer Hauptbahnhof toll. Neorenaissance, große Rundbogenfenster. Nicht weiter erstaunlich, dass ihn der Fahrgastverband „Allianz pro Schiene“ zum „Bahnhof des Jahres 2012“ wählt, Kategorie „Großstadtbahnhof“. Noch schöner als das Bauwerk selbst ist allerdings die Begründung der Jury.
In Bremen stehe „ein Märchenbau aus rotem Backstein“, schreiben die Fahrgästler, „ein echter Augenschmaus“. Doch wer sich für die „vorbildlich geführte Bahnhofstoilette“ und „warm ausgeleuchtete Ladenpassage“ begeistert, übersieht allzu leicht die wahren Werte des Bauwerks. Etwa den kleinen Blumenladen, der sich unter der Treppe der gewaltigen Mittelgalerie versteckt. Dort schlägt das warme Herz des Verkehrstempels – eine Formulierung, die sicher für einen Jurysitz beim Bahnhof-Contest 2013 qualifiziert.
In diesem unscheinbaren Lädchen sind täglich die Szenen zu beobachten, die den Bahnhof zum hochemotionalen Ort adeln. Hier hinein hechten verzweifelte Männer, die mit einer Rose ihr Beziehungsglück zu retten suchen. Hier arbeitet Ilse F., die für alle Lebenslagen ein passendes Gewächs parat hält. Hier zupfen alte Damen gedankenschwer an Blütenblättern, erinnern sich an ehemals verzweifelte, längst gestorbene Männer … Wer im Bremer Bahnhof ein bisschen Zeit hat – unter der Treppe findet er Drama und Hoffnung auf engstem Raum.
Dafür jedoch hat Dirk Flege keine Augen. Der „Allianz pro Schiene“-Chef denkt in größeren Maßstäben – und sortiert den Bahnhof locker ins Weltkulturerbe ein. Mit dem Bremer Unesco-Rathaus könne es der Bahnhof „durchaus aufnehmen“, urteilt Flege. Um recht kleinräumig fortzufahren: „Der Bremer Bahnhof ist ein echter Mittelpunkt, der sogar dem angrenzenden Viertel, der ,Bahnhofsvorstadt‘, seinen Namen gibt.“ Das muss dem Bremer Wunderbau erstmal einer nachmachen!
Bemerkenswerter ist die kühn gespannte Ankunftshalle, und dort wiederum das in luftiger Höhe schwebende Leiterchen, auf dem Uhrmacher bei Bedarf an riesigen Zeigern rütteln. Das ist gebaute Dimension! Eines Preises für Proportionalkunst würdig.
Die Fahrgast-Jury hingegen hatte nur Augen für das langweilige Wandrelief über den Anzeigetafeln. Es sorge für „das nötige Lokalkolorit, in dem es den Weg des Tabaks von Südamerika bis in die Hansestadt zeigt“. Wobei die Firma Brinkmann, deren Name das Bild dominiert, ihren Rohstoff gern auch aus dem Osten bezog: Geschäftsführer Ritter wurde 1933 Wirtschaftssenator und organisierte reichsweit die „Fachgruppe Tabakindustrie“ – also den Einsatz Zehntausender Zwangsarbeiter auf den Plantagen der Ukraine und Krim.
Aber, allen kleinlichen Anmerkungen zum Trotz: Die Bremer Bahnhofs-Prämierung kommt zur rechten Zeit. Denn bald schon ist es vorbei mit den von Jury gelobten Sichtachsen und Wegebeziehungen: Auf den Vorplatz wird ein gedoppeltes Bürohochhaus gebaut, das unseren „Märchenbau“ nur noch durch eine schmale Gasse sichtbar macht. Eine Meisterleistung des international tätigen Stararchitekten Max Dudler, die sicher bald durch weitere herrliche Juryworte gewürdigt wird.
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