Die Stadt bemalen –ob sie willoder nicht

Taggen, sprayen und wegrennen: Die Zahl illegaler Graffiti hat in der Coronazeit zugenommen. Wer sich tolerant und weltoffen geben will, schwärmt von Banksys Kunstwert. Wer lieber reinliche Wände wie in Pforzheim hätte, investiert Millionen in Putztrupps und Security – und verschafft so illegalen Maler-Crews den Adrenalin-Kick und maximiert genau den Fame, den sie suchen

An dieser Wand darf gesprayt werden. Das macht sie für echte Sprayer unattraktiv Foto: Symbolfoto: Miguel Ferraz

Von Nele Aulbert

Ein Freund von Arne und Isa hat Stress mit einem anderen Sprayer. Sein ­Piece wurde gecrosst. Das heißt, jemand hat über sein Werk gesprayt. „Das geht gar nicht“, sagt Arne. Das wäre eine echte Provokation. „In der illegalen Action crosst man niemals ein Piece von anderen.“

Der Sprayer-Freund möchte sich jetzt treffen, „das klären“. Heißt: Er will sich prügeln. Arne und Isa seufzen. Sie sind in der Nähe der Elbbrücken unterwegs und geben eine kleine Führung durch ihre Welt. Wie ein kleiner Rundgang durch eine Ausstellung ihrer Werke. Einen Rundgang in einem Museum, das es nicht gibt.

Es geht am Wasser entlang, unter den Bahngleisen durch, die Wände sind voll mit Graffiti: bunte Buchstaben, verschlungen, schattiert, skizziert. Manchmal tauchen die gleichen Motive wieder auf, jede Schriftart ist anders. Teilweise überlappen sich die Graffiti, teilweise stehen sie ganz für sich auf dem kahlen Beton. Und was ist daran Kunst?

„Was ist daran nicht Kunst?“, fragt Isa zurück und lächelt mit Blick auf die Wände. Sie ist stolz. Auf die Frage, ob Sprayen ein Lifestyle ist, sagt sie: „Ja. Du siehst die Stadt mit ganz anderen Augen. Du siehst die Graffiti mit anderen Augen. Du erkennst Styles, Vorlieben, Charakter.“ Sie setzen sich unter eine Brücke, gegenüber einer Wand. Viele der Künstler*innen, die die Pieces darauf gemalt haben, kennen sie. Über ihnen rattern die Fernzüge und ­S-Bahnen, neben ihnen skaten zwei Typen. Es ist kalt. Arne dreht sich eine Zigarette.

Die beiden sind seit etwa einem Jahr zusammen unterwegs, sie sind Teil einer gemeinsamen Crew. Arne wartet momentan auf den Start seiner Ausbildung. Und sprayt seit fünf Jahren. Isa ist Studentin, wohnt in einer WG und verdient sich neben dem Studium ihren Lebensunterhalt in der Gastronomie.

Sie sprayt seit zwei Jahren. Damit ist sie eine Ausnahme. Frauen seien immer noch unterrepräsentiert in der Szene, sagt sie. „Du wirst krass sexualisiert.“ Oft höre sie dumme Sprüche. Man pfeife ihr hinterher. Crews seien selten geschlechtergemischt. Es würden auch einige reine Frauencrews existieren. „Beim Sprayen musst du dich dreckig machen“, sagt sie und lacht. Man müsse klettern, rennen, mal über einen Zaun springen. Das sei nicht jederfraus Sache. Ihre schon.

Beide studieren weder Kunst noch Design. Graffiti ist für sie kein Lebensinhalt. Arne kann sich höchstens vorstellen, Tätowieren zu lernen. Beide freuen sich sehr über das Gespräch. Sie erzählen offen über ihr Hobby und machen sich Gedanken, bevor sie antworten. Es wirkt nicht so, als ob sie über Straftaten sprächen. Eher über ihre Kunstwerke, ihre Technik dahinter und ab und an über das Wegrennen vor unerwünschten Zeug*innen. Arne sagt, dass Kunst nie jedem gefalle und dass es darum auch nicht gehe bei Graffiti.

Ob Graffiti überhaupt Kunst sind, darüber wird viel gestritten. Je­de*r sieht Graffiti jeden Tag. Viele schimpfen. Andere sind fasziniert. Schon der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard schrieb in den 1970ern über das Phänomen Graffiti. Damals hatten Tags und Pieces gerade die New Yorker Außenwände erobert. Oder wie Baudrillard sagte: Es hat sich „das jähe Hereinbrechen der Graffiti über die Wände, Busse und U-Bahnzüge New Yorks“ ereignet.

Für ihn kam Graffiti einer radikalen Revolte gleich, eine Revolte sowohl gegen die Identität als auch gegen die Anonymität. Man wendet die Unbestimmtheit gegen das System. Um die Schönheit gehe es nicht. Graffiti besudele die Wände, der Sprayer „kotzt sich über ihnen aus“. Die Graffiti würden aber die Wände und Flächen der Stadt wieder zu einem Körper verwandeln, „zu einem Körper ohne Ende noch Anfang, gänzlich erogenisiert durch die Schrift“. Es schien eine Hassliebe zu sein für Baudrillard, eine Hassliebe, die auch heute viele verspüren. Zwischen Zorn und Faszination blicken Menschen auf besprühte Wände, bewerten die Werke je nach Platzierung und Stil.

Isa und Arne kennen den Zorn, den Graffiti auslöst. Sie akzeptieren ihn auch. Es geht ihnen anscheinend auch nicht darum, verstanden zu werden: „Die Pieces sind nicht für dich. Die sind nicht dafür da, dass du sie schön findest“, sagt Arne, „die sind von der Szene für die Szene.“

Die Idee sei auszubrechen. „Tagsüber bist du ein Teil der Gesellschaft, hast einen Job, zahlst Steuern, musst funktionieren. Aber nachts ziehst du deine Maske auf, gehst raus und bist nicht der, der du tagsüber bist.“ Isa sagt, es gehe auch um das, was bleibt. „Wir leben in einer Gesellschaft mit krassem Entwicklungsdruck“, erklärt sie, „Jeder soll besonders sein und herausstechen. Durch die Pieces hinterlasse ich etwas.“

Etwas hinterlassen, etwas zeigen. Gleichzeitig schreien und flüchten. Es scheint ein Widerspruch zu sein. Die Leinwand der Graffiti ist das öffentliche Stadtbild, die Szene der Spraye­r*in­nen dahinter liegt im Verborgenen. Sie fliehen vor dem Druck der Gesellschaft in eine andere Welt, treffen sich heimlich, bleiben anonym. Doch die Resultate sind sichtbar, provozieren und vermitteln manchmal auch eine Botschaft. Graffiti können auch politisch sein, hier kommt es aber ganz stark auf den*­die Spraye­r*in an. „Die Meisten sehen viel mehr das Künstlerische im Graffiti, die Verbreitung ihres Namens und den ihrer Crew in der Szene. Manche wollen auch politische Statements setzten“, sagt Arne. Diese Statements sind dann oft polizeifeindlich und antifaschistisch.

Während die beiden weiterlaufen, sieht sich Arne die ganze Zeit um. Nach neuen Spots. Die beiden überlegen, wie man mit einem Seil über die Mauer klettern könnte, sie erzählen, manche malten kopfüber, um die besten Orte zu erreichen; die Wände, die man aus dem Zug sieht, die man von großen Straßen sieht, die über der Stadt thronen.

Frauen seien unterrepräsentiert in der Szene, sagt Isa. „Du wirst krass sexualisiert.“ Oft höre sie dumme Sprüche. Man pfeife ihr hinterher. Gemischte Crews seien selten

Dann stehen sie vor einem ihrer Pieces. Es ist mindestens 2 Meter hoch und 3 Meter lang. „Das haben wir in 5 Minuten gemalt“, erzählt Isa.

Damals waren sie zu dritt. Sie erklären den Vorgang: Ei­ne*r steht Schmiere und hält Ausschau nach unerwünschten Zuschauer*innen, der*­die Andere malt die Outlines, also die Außenlinien der Motive. Der*­die Dritte fängt an, den ersten Buchstaben auszufüllen. „Bei dem hier hat jemand die Bullen gerufen von der Straße aus. Lustig, das letzte Mal, als ich hier war, bin ich den Weg entlang gerannt“, erzählt Isa.

Die Bullen. Ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel. Isas Meinung nach verschwende die Polizei zu viel Zeit mit der Jagd auf Sprayer*innen. „Es gibt so viele schlimmere Straftaten, die die Polizei vernachlässigt.“ Sowohl die Bundespolizei als auch die Landespolizei Hamburg äußern sich dazu einstimmig: Es sei ihre Aufgabe, alle festgestellten Straftaten konsequent zu verfolgen. Einen Ermessensspielraum gebe es hierbei nicht, egal ob Kapitalverbrechen, Ladendiebstahl oder Graffiti.

Im Jahr 2020 sind der Polizei Hamburg 3.959 Fälle von Sachbeschädigung durch Graffiti gemeldet worden. Das sei ein Anstieg um 18,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Sprecher der Bundespolizei schließt einen Zusammenhang mit der Coronapandemie nicht aus. Auch das vermehrte Abstellen von Zügen durch die Pandemie habe die Gelegenheitsstrukturen für Spraye­r*in­nen „wesentlich verbessert“.

Den Anstieg der Pieces bedingt durch die Coronapandemie sieht auch Isa. „Ich habe durch Corona viel mehr Zeit zum Sprayen. Statt feiern zu gehen, trifft man sich jetzt samstags zum Malen“, erklärt sie. Mehr Spraye­r*in­nen seien es nicht unbedingt geworden, nur mehr Zeit. „Im ersten Lockdown war es heftig. Die Straßen waren nachts wie leergefegt. Man konnte sogar in der Innenstadt malen“, erzählt Arne. Das machen sie sonst eher nicht. Irgendwer schaue halt immer aus dem Fenster.

„Züge sind die Königsdisziplin“, erzählt Arne. Wegen der Bewachung. „Ich habe gerade angefangen, Züge zu malen. Und unter den Zügen gibt es nochmal Abstufungen. Man fängt mit S-Bahnen an und endet mit ICEs. Die werden krass bewacht.“ Wenn er nicht erwischt wird, fährt sein Kunstwerk durch Hamburg. Und zwar höchstens ein paar Tage, denn die Züge werden sehr oft gesäubert. Manch-

Die Stadt bemalen. Ob sie will, oder nicht

Taggen, Sprayen und Wegrennen: Die Zahl illegaler Graffitti hat in der Corona-Zeit zugenommen. Wer sich tolerant und weltoffen geben will, schwärmt von Banksys Kunstwert. Wer lieber saubere Wände wie in Pforzheim hätte, investiert Millionen in Putztrupps und Security – und steigert so den Adrenalin-Kick und den Fame, um die es den Spray-Crews geht

Laut Jean Baudrillard verwandeln Graffiti die Stadt: Sie werde „zu einem Körper ohne Ende noch Anfang, gänzlich erogenisiert“, befand der Philosoph in den 1970ern Foto: Symbolfoto: Miguel Ferraz

mal hat man auch richtig Pech. „Mein letztes Piece ist nicht mal los gefahren“, erzählt Arne. Und dafür der ganze Stress? Er grinst: „Der lohnt sich dann beim nächsten Zug umso mehr.“

Ganze 13 Millionen Euro hat die Deutsche Bahn im Jahr 2019 nach eigenen Angaben für Graffitibeseitigung aufgewendet. Um das Erfolgserlebnis der Spraye­r*in­nen zu senken, werden die Werke innerhalb von 24 bis 72 Stunden entfernt.

Die Säuberung eines Nahverkehrswagens dauere einen Arbeitstag, die Säuberung eines Fernverkehrswagens rund sieben Tage. Die Deutsche Bahn spricht von „Schmierereien“, von „Schäden“ und von sehr viel Geld. Sie bewacht Zugabstellanlagen mit Personal und Technik, wendet Schutzlacke und Graffiti-Schutzfolien an und will Schü­le­r*in­nen über die strafrechtlichen Konsequenzen aufklären. Wieso man besondere Werke nicht einfach auf den Zügen lässt, scheint klar zu sein: Es ist illegale Sachbeschädigung. Das geht nicht. Punkt.

Auch der deutschen Politik sind Graffiti immer wieder ein Dorn im Auge. Momentan ist die FDP Bremen ganz vorn dabei, wenn es um Anti-Graffiti-Initiativen geht. Die sieht nämlich das subjektive Sicherheitsgefühl der Bür­ge­r*in­nen bedroht. Und die Attraktivität des Stadtbildes auch. Sie möchte sich ein Beispiel nehmen an der baden-württembergischen Stadt Pforzheim. Das Schwarzwaldrand-Oberzentrum hat das Anti-Graffiti-Mobil (AGM) eingeführt. Mit dem AGM werden unter Aufsicht von ehrenamtlich tätigen Ma­le­r*in­nen und La­ckie­re­r*in­nen die Graffiti durch straffällige Jugendliche entfernt. Im besten Fall entfernen also die erwischten Spraye­r*in­nen ihr eigenes Werk. Pforzheim soll mittlerweile eine der graffitifreiesten Städte sein. Po­li­ti­ke­r*in­nen betonen, dass sie nicht jedes Graffito für schlecht halten. Aber gefährden Spraye­r*in­nen das Sicherheitsgefühl in Städten? Wer entscheidet, was Kunst und was „Schmiererei“ ist?

Auch der weltberühmte Graffitikünstler Banksy sprayt illegal. Nur sind seine Schablonen-Bilder mittlerweile mehrere Millionen Euro wert und Hamburg schützt seins mit Plexiglas. Thomas Baumgärtel, dem Bananensprayer, werden institutionelle Einzelausstellungen in öffentlichen Galerien gewidmet. Und Harald Naegeli, der einst für seine Figuren an Züricher Gebäuden im Knast saß, hat zuletzt ganz vertragsgemäß die Außenwände des Frauenmünsters mit einem Totentanz in seinem Stil versehen. Ohne Entgelt.

Der Grat zwischen Kunst und Vandalismus ist schmal, vielleicht auch verschwommen. Die Flucht aus der Gesellschaft steht im Kontrast zur Konfrontation mit der ständigen Sichtbarkeit der Graffiti. Und die Ablehnung des Boulevards steht im Kontrast zu den Menschenmassen, die jeder leisesten Spur von einem neuen Graffito von Banksy folgen.

Hinter den Elbbrücken geht die Sonne langsam unter und in das Licht fahren die Züge. Eine atemberaubende Kulisse für einen bemalten Zug. „Das wäre das perfekte Video“, seufzt Isa. Das Video würde sie dann auf Instagram posten. So wie die meisten Pieces. Fast jede Graffiti-Crew hat heute einen Account in den sozialen Medien. Man findet sie unter ihrem Crew-Namen oder unter passenden Hashtags. „Früher war Graffiti eine Underground-Szene. Heute sind alle im Netz zu finden“, sagt Arne. Und wieso? Wegen des „Fames“, der Anerkennung und des Ruhms.

Dass ihre Graffiti in einem Museum ausgestellt würden, fände Isa nicht gut. „Die gehören da nicht hin. Das wäre eher Street-Art“, sagt sie. Street-Art ist kommerzielles und legales Sprayen, davon distanzieren sich die beiden direkt.

„Es geht beim Sprayen auch viel um Adrenalin“, sagt Arne. Er grinst. „Ich opfere viel fürs Sprayen, aber dieses Gefühl dabei ist es mir wert.“ Zirka 50 Euro die Woche gebe er für Dosen aus. Die Bußgelder, wenn man erwischt wird, sind hoch. Ein gesprayter Zug soll 17.000 Euro Strafe kosten. Aber die Anerkennung und der Respekt sind es wert. Und die Ehre.

Deshalb gibt es klare Regeln, was besprüht werden darf und was nicht. Kirchen, Einfamilienhäuser, Denkmäler oder Autos sind verboten. „Das geht gar nicht, da zu sprayen. Da bist du auch direkt unten durch in der Szene und kannst dir einen neuen Namen suchen“, stellt Arne klar. Das klingt paradox: Für ihn hätten diese Tabus aber weniger mit politischer Haltung zu tun als mit der Sinnhaftigkeit. „Sachbeschädigung an Denkmälern hat in der Regel nicht das Ziel, seinen Namen in der Szene zu verbreiten“, sagt er. Bei alten Kirchen und Baudenkmälern ginge es ihm auch oft um Respekt vor schöner Architektur. Egal ob Medien, Behörden oder Politik, sie alle sprechen von wilden Jugendlichen, die unbedacht die Stadt beschmieren. Dabei scheint die Szene sehr vielfältig. Und sehr individuell.

„Ich opfere viel fürs Sprayen, aber dieses Gefühl dabei ist es mir wert“

Arne, Sprayer, über die Bedeutung des Adrenalins

Arne und Isa betonen immer wieder, sie könnten nicht für die ganze Szene sprechen. Es scheint eine große Angst zu herrschen, zu pauschalisieren und immer wieder verdeutlichen sie, wie wichtig die individuelle Freiheit ist. Auf die Frage, wer denn so spraye, kommt eine ähnliche Antwort: „Da gibt es den obdachlosen Sprayer und den Gymnasiallehrer, der sprayt. Sprayen kannst du nicht von dem Bildungsstand oder vom Einkommen abhängig machen“, sagt Isa.

Man sei schon mal mit anderen Crews unterwegs, aber eigentlich machen viele ihr eigenes Ding. Freiheit eben. Solange man sich respektvoll behandelt. „Es gibt schon auch Misstrauen zwischen einigen Crews, manchmal auch einfach Konkurrenz. Manche nutzen die Graffiti-Szene als eine Art Gang-Szene und wollen sich prügeln. Das ist echt schade“, erzählt sie.

Die Frage danach, was Graffiti nun sind, scheint der Anfang des Problems zu sein. Baudrillard hatte gesagt, es sei die Unbestimmtheit, die Graffiti ausmachen. Sprayen passt nicht ins System, es passt in keine klare Definition. Es ist Kunst und gleichzeitig auch nicht. Manche nervt ein vollgetaggter Mülleimer, manche regen sich über große ­Pieces auf Hauswänden auf. Graffiti gehören niemandem und gleichzeitig allen. Es schreit: „Seht, hier bin ich!“ Und gleichzeitig steht niemand daneben. Das ist die Provokation. Kunst, die provoziert, ist vielleicht die beste. „Wir könnten auch Bushäuschen zerstören“, sagt Isa. „Stattdessen bemalen wir die Stadt.“