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Grablandschaften

Der Lissabonner Friedhof Os Prazeres gleicht mit seinen einstöckigen Häusern einem Dorf. Er veranschaulicht die Vergänglichkeit des Lebens nach dem Tod   ■  Von Antje Bauer

Die Grabplatten auf dem Friedhof der Jerusalemer Altstadt sind eingebrochen, die Steine mit den eingeschnittenen Koranversen umgestürzt. Überall Unkraut, hier und da eine zerbeulte Coladose. „Die Leute kümmern sich nicht um ihr eigenes Leben, wie sollen sie sich da um die Toten kümmern!“, meint ein palästinensischer Freund. Es dauert lange, bis er das Grab seines Vaters findet.

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An der weißen Friedhofsmauer des andalusischen Tarifa liegen die jungen Marokkaner, die der Wunsch nach Fernseher und Auto auf die Meeresenge von Gibraltar getrieben hat, und die dann hier an den Strand gespült wurden. Im November kommen Frauen und legen Blumen auf die Gräber, auch dorthin, wo die „moros“ liegen, obwohl sie keine Christenmenschen waren. „Wir wissen doch selbst, was Hunger ist“, sagen sie.

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In der Südtürkei wird ein Mann zu Grabe getragen. Er liegt, in einen Webteppich eingewickelt, auf einer hölzernen Bahre. Der Trauerzug hat es eilig auf dem Weg zum Friedhof. Während der Imam predigt, sitzen die Männer des Dorfes reglos im Schatten der Bäume, zwischen sommerlichem Gras. Zikaden zirpen, Vögel singen, darüber der Sermon des Priesters. Schließlich schaufeln die Männer reihum das Grab zu.

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Die Gassen von Os Prazeres sind von Zypressen überschattet, in der Ferne spannt sich die Brücke des 25. April über den Tejo. Obwohl in Lissabon gelegen, gleicht dieser alte Friedhof einem Dorf. Die einstöckigen Häuser mit spitzen Giebeln und dem Umriss von Liegewagen wurden eng aneinandergebaut.

In die Eingangstüren sind Glasfenster eingelassen, deren Spitzenvorhänge zuweilen zurückgezogen, zuweilen seitlich gerafft sind und Neugierigen den Blick ins dämmerige Innere gestatten, wie auf dem Dorf.

Die Lissabonner lieben die Enge – die winzigen Restaurants, in denen die Gäste beim Fleischschneiden den Ellbogen des unbekannten Nachbarn berühren, sind stets die vollsten. Und auch hier in Os Prazeres scheint alles für ein gemütliches Zusammensein eingerichtet: An beiden Seitenwänden eines solchen Häuschens sind Liegen in die Wand eingelassen, je drei übereinander, aus Stein, manche aus Marmor; in manchen dieser Gebäude fehlt der Boden, da wird sichtbar, dass sich diese Liegen auch unterirdisch fortsetzen. Auf jeder Liege ruht eine Bahre. Große zumeist, manche aber sehr klein; die meisten aus Holz, manche aus Marmor. Über die Bahren sind weiße Spitzentücher oder Samttücher gebreitet, manche blütenweiß und frisch gebügelt, andere mottenzerfressen, altersgrau. In der Mitte befindet sich ein kleiner Altar, darauf gerahmte Familienfotos auf Spitzendeckchen, schön symmetrisch angeordnet, und Kerzen oder eine Petroleumlampe. Und davor steht fast immer ein Holzstuhl. In manchen dieser Häuschen wurde Linoleum ausgelegt, in anderen ein Teppich. In einem liegen auf einem Kindersarg Stofftiere und Plastikautos. „Jorge“, steht unter dem Foto eines kleinen Jungen zu lesen. In jedem Moment, so scheint es, könnte Jorge seinen Sarg verlassen und sich zum Spielen auf den Teppich setzen, während seine Mutter auf dem Stühlchen Spitzen häkelt. Für Häuslichkeit eingerichtet, sind gleichwohl nicht alle dieser Häuser wohnlich. Manche Glasscheiben sind zerbrochen, lassen den Wind hinein und die flatternden Gardinen hinaus. Vasen sind umgestürzt, Blumen verwelkt, Stühle haben ein Bein verloren. Manche Holzsärge sind an den Ecken aufgesprungen, darunter gähnt es schwarz und man erwartet, einen Knochen zu sehen, einen Schädel, ein Auge gar, das aus dem Grab starrt. „In jedem Holzsarg liegt ein weiterer Sarg, aus Zink“, sagt ein alter Friedhofswächter. „Wegen des Geruchs und der Verwesung. Da kann nichts passieren.“

Guy sieht das anders. Guy ist ein übergewichtiger, rothaariger US-Amerikaner, der in Lissabon Portugiesisch lernt. In den USA hat er sich mit betrügerischen Praktiken der dortigen Begräbnisinstitute beschäftigt und dadurch Einblick in die Geheimnisse des Begräbniswesens bekommen. „Die Zinksärge werden verschweißt“, erklärt er. „Doch in den Toten breitet sich eine Bakterie aus, die ohne Sauerstoff leben kann. Sie vermehrt sich, der Körper wird aufgetrieben, bis er schließlich platzt und sich verflüssigt. Wenn der Zinksarg besonders gut verschweißt ist, kann man das Platzen sogar hören.“ Isabel, die Zimmerwirtin, wird an diesem Punkt der Schilderung grün im Gesicht und verlässt unter Protest den Salon. Von der Lust am Gruseln getrieben, kehrt sie jedoch bald darauf zurück. Die Mausoleen in Os Prazeres seien ohnehin nur für die Reichen und Berühmten da, sagt sie. Die normalen Sterblichen würden in der Erde bestattet. Nach drei Jahren würden sie wieder ausgegraben, von Friedhofsangestellten, im Beisein von Familienangehörigen. Dann würden die Knochen geputzt, von Resten befreit und erneut begraben. Der Anblick sei nicht nach jedermanns Geschmack.

Ein schöner Herbstmorgen in Os Prazeres. Die Brücke des 25. April ragt zur Hälfte aus dem Nebel, von der grässlichen Christusstatue auf der anderen Seite des Tejo ist nur die Büste zu sehen. Hunderte Blumenkränze weisen den Weg zum Grab von Amalia Rodrigues, Portugals angebeteter Fado-Sängerin, die kürzlich hier in einer Nische beigesetzt wurde – um weitere Mausoleen zu errichten, ist in Os Prazeres kein Platz mehr. Alte Frauen laufen mit Plastikeimern in der Hand durch die Gassen, in der Sonne sitzen Katzen und putzen sich. In einem kleinen Mausoleum, dessen Aufschrift aus dem letzten Jahrhundert stammt, sind die Fenster eingeschlagen, der Vorhang zerfetzt, das Eisengitter der Tür verrostet. Drinnen steht ein Sarg. Vom Holzsarg sind nur noch einige Überreste zu sehen. Der Zinksarg darunter ist aufgeplatzt. Darin liegt eine schwarze Masse, wie Moor. Auf diesem Moor blühen Blumen, grellgelbe und grüne kleine Blumen. Das also geschieht mit uns, mit manchen von uns. Wir werden zu einem kleinen schwarzen Moor mit gelben Blumen.

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