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Gorbatschow ausgepfiffen

■ 1. Mai in Moskau: Nach den fröhlichen Fans beim traditionellen Aufmarsch demonstrierte die Opposition für Litauen und gegen die Wirtschaftsblockade

Moskau (ap/dpa) - Zehntausende von Demonstranten haben den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow nach der traditionellen Maikundgebung auf dem Roten Platz in Moskau ausgepfiffen und wegen der Wirtschaftsblockade gegen Litauen scharf kritisiert.

Im Anschluß an die offizielle Maikundgebung der sowjetischen Gewerkschaften zogen Anhänger der Moskauer Wählervereinigung an der Tribüne vorbei, wo die Sowjet -Führung stand. Sie schwenkten Fahnen in den litauischen Nationalfarben Gelb, Rot und Grün sowie Spruchbänder mit Parolen wie „Nieder mit dem Reich des roten Faschismus“ oder „Heute eine Blockade Litauens - morgen eine Blockade Moskaus“. Es war die erste genehmigte Gegendemonstration bei einer Maikundgebung in der sowjetischen Hauptstadt.

Gorbatschow, der die Feierlichkeiten zusammen mit anderen führenden Vertretern aus Partei und Regierung vom Lenin -Mausoleum aus verfolgt hatte, verließ die Tribüne 20 Minuten nach Eintreffen der Demonstranten unter Pfiffen und Buhrufen. Er ließ das scheinbar unbewegt über sich ergehen, trommelte nur ungeduldig mit den Fingern auf das Geländer der Tribüne. Die Demonstranten hatten den Roten Platz nach Ende der halbstündigen traditionellen Maikundgebung betreten, die erstmals allein von der Gewerkschaft und nicht von der Partei organisiert worden war. Das sowjetische Fernsehen brach die Übertragung nach Eintreffen der Demonstranten ab.

Die politische Führung der UdSSR hatte zuvor die traditionelle Maiparade abgenommen. Fröhlich winkende Teilnehmer versprachen Unterstützung der Politik Gorbatschows. Perestroika, Glasnost, Frieden und Demokratie waren jedoch nicht die häufigsten Schlagworte auf den mitgeführten Transparenten.

An der Feierlichkeit nahm neben Ministerpräsident Nikolai Ryschkow und anderen Regierungsvertretern auch der neue Bürgermeister Moskaus, Gawriil Popow, teil, der als Kritiker Gorbatschows und Vertreter eines radikaleren Reformkurses gilt. Er verließ die Tribüne gemeinsam mit Gorbatschow. Reportage auf Seite 5

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