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Gorbatschow Superstar

Eine Bilanz der Moskauer Allunionskonferenz  ■  K O M M E N T A R E

Die Moskauer Parteikonferenz war auch ein spannendes Spektakel. Nicht einmal sowjetische Journalisten wußten vorher, ob die Mehrheit der 5.000 Delegierten Konservative oder Reformer sein würden. Die abenteuerlichen Vorgänge bei der Kandidatenauswahl deuteten auf einen Machtkampf, bei dem es um die Wurst geht. Dabei war die Eröffnungsrede Gorbatschows im Politbüro durchdiskutiert - wie man hört, auch durchgebrüllt - worden. Wären die Anträge Gorbatschows gescheitert, hätte die ganze Parteiführung blamiert dagestanden. So anarchisch aber geht es in der Sowjetunion doch noch nicht zu. Der Generalsekretär ist nicht nur ein großer Reformer, sondern auch ein großer Dramaturg.

Das Neue an Gorbatschows politischem Stil ist, daß er - in Grenzen - Unsicherheiten zuläßt. Die Delegierten durften Dampf ablassen, es wurde gelacht, geschrien, applaudiert. Die Veröffentlichung aller Beiträge wird ein einmaliges und realistisches Bild der Zustände im ganzen Land liefern. Der Generalsekretär seinerseits argumentierte eindringlich, unterbrach, mahnte, ließ sich widersprechen und keilte zurück. Es war deutlich, daß er alles in der Hand hatte.

Die Warnung vor einem neuen Personenkult war da schon überflüssig: es gibt ihn längst. Aber er ist anders als früher. Die Zeit der feierlichen Verlautbarungen, der stehenden Ovationen, der Lobhudelei und Langeweile ist vorbei. Jetzt geht es um mediengerechte Popularität. Auch sowjetische Politiker müssen von nun an vertrauenerweckend, nett, gut anzusehen und sprachmächtig sein. Der Personenkult ist verwestlicht. Selbst die liberalen Aufpasser hängen an den Lippen des Generalsekretärs. Sie sind alarmiert, wenn er etwas konservatives sagt, und erleichtert, wenn es dann alles anders gemeint ist. Das geplante Präsidialsystem ist auf den Medienstar Gorbatschow zugeschnitten.

Wie Gorbatschow müssen auch die anderen Politiker sein: gute öffentliche Selbstdarsteller und gewiefte Taktiker. Das setzt andere Selektionsmechanismen voraus, die sich gegenwärtig erst herstellen. Aufstrebende Politiker müssen nicht mehr nur ihren Chefs und dem KGB gefallen, sie müssen um öffentliche Zustimmung ihrer Person werben. Damit wird nicht nur eine dynamisierende Ungewißheit ins System eingebaut - sie können ja auch durchfallen; auch die Kungel und Mauschelmechanismen müssen vollständig reorganisiert werden. Weil es in absehbarer Zeit überdies beim Ein -Parteien-System bleiben wird, werden die Qualitäten und Einstellungen der zu wählenden Kandidaten nur durch eine aufmerksame Beobachtung des innerparteilichen Lebens identifizierbar sein. Die Behauptung, die politische Rolle der Partei werde durch ihren Rückzug aus unmittelbarer Leitung von allem und jedem gestärkt, kann in diesem Sinne also durchaus zutreffen.

Der wichtigste Wandel aber ist die Veränderung der politischen Sprache. Gegen „Perestroika“ und „Glasnost“ gibt es keinen Widerstand mehr. Nicht vor ihnen warnen die Reformskeptiker, sondern vor ihrem „Mißbrauch“. Die politischen Konflikte werden also neu formuliert, offener und damit auch schärfer sein. Die neue Sprache liefert für sie die demagogischen Hebel. So konnte Gorbatschow eine rhetorische Figur listig einsetzen: Wenn dies oder jenes unterbleibe, könne man die ganze Perestroika abschreiben; dann aber gehe der Sozialismus mitsamt der Sowjetunion vor die Hunde. Das konnten auch die mürrischsten Zuhörer im Plenarsaal nicht wollen.

Erhard Stölting

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