Gipfel-Therapie

Christian Mayr hat eine kognitive Behinderung. Seine Ehe zerbrach, oft plagen ihn Ängste. Wenn er ganz allein hoch oben in den Bergen ist, lässt er all das für ein paar Stunden hinter sich

Ein Mann, ein Berg, ein Ziel: Oben angekommen, werden Erinnerungsfotos gemacht, und das Kopfweh hört auf Foto: Simon Wörz

Aus Bayrischzell und München Simon Wörz
und Sabrina Höbel

Auf dem Gipfel des Seebergs sind die Kopfschmerzen verschwunden. Christian Mayr* faltet ein Tuch, legt es in den Schnee und setzt sich drauf. Die Sonne brennt, Mayr keucht. Er nimmt seine Brille ab und wischt die Gläser am Ärmel seiner Jacke ab. Als er sie wieder auf hat, wandert sein Blick über das Bergpanorama. Kann sein, dass er diesmal wieder länger oben bleibt.

Wenn er allein in den Bergen ist, fühlt Mayr sich am wohlsten. Hier oben spielt seine kognitive Behinderung keine Rolle. Er schafft etwas, zeigt, dass er was kann. Meist ist die Leistungsgesellschaft gegen ihn, der Arbeitsmarkt, der Partnerschaftsmarkt, immerzu dieses Schnell-Schnell – die ehrgeizige Hektik ist nicht ausgerichtet auf Menschen wie ihn, die anders denken, langsamer sind. Mayr ist einer von acht Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland. Zehn Prozent von ihnen gelten als „geistig oder seelisch behindert“.

Da ist aber viel mehr, was ihn ausmacht: Mut, Neugier, Ausdauer. Und eben seine ganze persönliche, nicht gerade leichte Geschichte. In der kommt eine Mutter vor, deren Berührungen er nicht erträgt. Außerdem eine Frau, die ihm das Leben gerettet hat. Und schließlich eine dritte, eine, die er nie wiedersehen möchte.

Vor neun Jahren kam der Punkt, an dem wollte Mayr nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Es war ein Samstag, eigentlich war er auf dem Weg in die Allianz-Arena, Bayern gegen Dortmund. Doch dann stand er statt im Stadion auf einem Grünstreifen am Ende eines Bahnsteigs. Links und rechts rauschten Züge an ihm vorbei. Ein Schritt nur, und alles wäre vorbei gewesen.

Ein „Prachtkind“ nannte ihn der Arzt, als er 1977 als jüngster von drei Brüdern geboren wurde. Bald merkte Mayrs Mutter, dass der Kleine seltsam lief. Der Arzt befand: Der Junge wird nie richtig gehen können. Er riet der Mutter zur Vojta-Therapie, einer nicht unumstrittenen Physiotherapie, die Kleinkindern mit motorischen Fehlentwicklungen helfen soll. Bis heute wird die Behandlungsmethode in Praxen und Kliniken angewendet.

Mayr war 14 Monate alt, als seine Mutter mit ihren Händen wieder und wieder auf seinen kleinen Körper drückte, wie es nach der Vojta-Methode üblich ist. Einmal verlor er dabei das Bewusstsein. „Da habe ich gesagt, wir hören auf damit“, sagt Mayrs Mutter heute, als sie ihren Sohn zum Frühstück in dessen Wohnung besucht.

Nach jenem Vorfall habe ihr Junge nicht mehr gelacht und auch nicht mehr gesprochen. Erst als er auf die Förderschule kam, begann er wieder zu reden. Umarmen kann er die „liebe Mama“ bis heute nicht.

Als Kind hatte Mayr manchmal Angst vor seiner Mutter. Dann rief sie ihren Mann an, der als Ingenieur um die Welt reiste. Seine Stimme beruhigte den Jungen. Wenn der Vater zu Hause war, verbrachte die Familie die Wochenenden in den Bergen. Beim Wandern band er seinem jüngsten Sohn ein Seil um die Hüften und ließ ihn vorauslaufen.

Heute, mit Mitte vierzig, ist Mayr meist allein unterwegs. Die bayerischen Voralpen liegen unter einer dünnen Schneedecke. Am Rand von Bayrischzell, hinter einem Minigolfplatz, beginnt der Aufstieg. Bei der ersten Kurve stoppt Mayr und greift nach den Wanderstöcken, die an seinen Rucksack geschnallt sind. Sie verhaken sich, der Wanderer wird hektisch. Sein Kopfweh macht sich deutlich bemerkbar. Es ist chronisch, rührt von einer selten Erkrankung am Rückenmark.

Nach und nach ziehen andere Wandersleute an Mayr vorbei. Nimmt er hinter sich jemanden wahr, der ihn überholen will, stellt er sich schon eine halbe Minute vorher an die Seite. Mit einem lauten „Bitte, bitte, bitte“ winkt er die Fremden vorbei. „Mir ist wohler, wenn niemand hinter mir läuft.“

Mit jedem Schritt öffnet sich das Tal ein bisschen weiter. In der Ferne flimmern die schroffen Kämme der Nordtiroler Kalkalpen. An einer Alm gabelt sich die Wegführung. Hier beginnt das steilste Stück des Aufstiegs. Wer zum Gipfel möchte, muss noch einmal 300 Höhenmeter weiter nach oben. Mayr möchte, obwohl sein Kopf so schmerzt.

Kurz vor dem Ziel stolpert er, der Rucksack zieht ihn nach hinten. Der massige Mann fällt in den Schnee, seine Arme und Beine verkrampfen. Doch schnell richtet er sich wieder auf. Rote Flecken leuchten auf seinem Gesicht. „Stopp, ich kann das“, sagt Mayr mit zittriger Stimme zu sich selbst.

Sechs Tage vor dieser Wanderung steckte Mayr voll im Alltag. Fast immer ist es noch dunkel, wenn er den Zug zur Arbeit nimmt. Es kommt vor, dass er unterwegs fremde Leute anspricht. Er erzählt ihnen, dass er beim besten Bäcker der Stadt arbeite und dass sie unbedingt vorbeikommen müssten. „Unser Marketing-Beauftragter“, scherzt Mayrs Chef Rico Sailer*.

An Hunderte Bäckereien hatte Mayr seine Bewerbung verschickt. Die meisten lehnten ab, manche meldeten sich nicht einmal zurück. Nur 30 Prozent der behinderten Menschen in Deutschland sind in den Arbeitsmarkt integriert, ermittelte das Statistische Bundesamt. In Rico Sailers kleinem Familienbetrieb in München gibt es nur wenige Mitarbeiter. Der Junior-Chef hat Mayr vor fünf Monaten gern eingestellt. Er glaube an ihn, sagt er.

Der massige Mann fällt in den Schnee, seine Arme und Beine verkrampfen. Doch schnell richtet er sich wieder auf.„Stopp, ich kann das“, sagt Mayr mit zittriger Stimme zu sich selbst

In der Backstube wirft Mayr seinem Boss Luftküsse zu. „Der Rico ist so lieb, ich könnte ihn immer drücken“, sagt er. Sailer zeigt ihm nicht nur, wie man Brezeln dreht, sondern auch, wie man sich ordentlich die Fingernägel schneidet und den Bart rasiert. Neulich hat er seinem Mitarbeiter die Haare geschnitten. Früher hatte Mayr sich immer ein „C“ in die dunkelblonden Haare rasiert, „C“ wie sein Vorname, Christian. „Das lassen wir jetzt mal weg“, bestimmte der Chef.

Anfangs fiel es Mayr schwer, die Croissants korrekt auf dem Blech anzuordnen: fünf quer, vier längs. Zählen kann er nicht so gut. Sailer hat ihm eine Anleitung gezeichnet. Offiziell ist Mayr sein Praktikant und bekommt kein Geld für seine Arbeit. Das soll sich bald ändern. Er hat einen Platz in einem Inklusionsprogramm der Diakonie bekommen, das ihn bei der Ausbildung zum Bäcker unterstützt. Wenn er ausgelernt hat, will sein Chef ihn wie alle anderen bezahlen. Er schätze Mayr für dessen „positive“ Art, von ihm könne man viel lernen, meint Sailer.

Mayr steht am Backtisch und formt einen Klumpen Teig zu Brot. Er trägt eine weiße Schürze, Sailer schaut ihm über die Schulter. „Warte mal“, sagt er und will erklären, wie der Brotteig richtig geknetet wird. Da bleibt Mayr kurz die Luft weg. Er zittert. Das ist sie wieder, die Angst.

Mit anderen behinderten Menschen kommt Mayr nicht gut klar. Er versteht sie nicht, sagt er. Viel lieber ist er unter Nichtbehinderten. Doch die verstehen wiederum ihn oft nicht. So fühlt es sich für ihn oft an, als gehöre er weder zu den einen noch zu den anderen. Das verkompliziert nicht nur die Jobsuche, sondern macht es auch schwer, eine Partnerin zu finden.

Über eine Vermittlungsagentur lernte er vor zehn Jahren Mia* kennen. Sie heirateten in ihrer Heimat, im Norden Thailands. Mayrs Mutter war von Anfang an dagegen. Schließlich flogen die Eltern, der Vater war schwer an Krebs erkrankt, doch mit nach Asien. „Wir konnten es ihm nicht verbieten, erst recht ich nicht“, sagt die Mutter. An seinem Hochzeitstag wollte Mayr dann am liebsten direkt wieder heimfliegen, erzählt er. Thailändische Hochzeiten sind anstrengend, vollgepackt mit Ritualen. „Ein Kasperltheater“, sagt seine Mutter.

Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Ziel, Mayr stapft durch ein Schneefeld, der Schweiß fließt seinen Nacken herunter und sammelt sich an der Kapuze seiner grauen Sweatjacke. Nur noch ein paar Schritte und er ist am Gipfelkreuz.

Erleichtert atmet Mayr aus. Wenn er ganz oben angekommen ist, verschwindet sein Kopfweh, wenigstens für einen kurzen Augenblick. Er glaubt, es liegt an der Höhe. Am Gipfel des Seebergs, auf 1.538 Metern, pfeift ein kühler Wind. Unten im Tal glitzert das Wasser des Schliersees, in der anderen Richtung ist der Chiemsee zu sehen. Mayr zieht eine grüne Winterjacke aus dem Rucksack. Seine Lieblingsjacke – weil er sie ohne Mia gekauft hat.

Frisch verheiratet, zog das Paar in eine Wohnung im Haus seiner Eltern: 110 Quadratmeter, Ostbalkon, Westbalkon, oberste Etage. Dort seien sie häufig aneinandergeraten. Mit rotem Kopf erzählt Mayr, dass seine Ehefrau ihn oft wie Luft behandelt habe. Einmal habe er sogar vor Mia gekniet und sie angefleht, ihn wenigstens anzuschauen, erinnert sich die Mutter.

Ein halbes Jahr lebten die beiden zusammen, als sie seine Fuß­ball­freun­d:in­nen kennenlernen sollte. Endlich wollte Mayr seine große Leidenschaft mit seiner Ehefrau teilen, er geht zu allen Heimspielen des FC Bayern. Zum ersten Mal konnte er Mia überzeugen, ihn zu begleiten. Samstagabend, Topspiel, Bayern gegen Dortmund. In letzter Minute überlegte sie es sich dann doch anders. Wütend und enttäuscht fuhr Mayr allein in Richtung Stadion. Kurz darauf rief eine Polizistin seine Mutter an: Ihr Sohn habe sich das Leben nehmen wollen. Fast neun Jahre ist das jetzt her.

Ein paar Monate darauf verschwand Mia – von einen Tag auf den anderen. Mayrs Familie weiß bis heute nicht, wo sie ist. „Mir tut’s jetzt noch weh“, sagt der verlassene Ehemann. Nach der Trennung kam er mehrmals in die Psychiatrie. Einmal bedrohten ihn in der S-Bahn Jugendliche mit einem Messer. Danach traute er sich nicht mehr, Bahn zu fahren. Ihm wurde eine Angststörung diagnostiziert und ein gesetzlicher Betreuer zugewiesen. Verträge unterschreiben, Post empfangen, auf sein Konto zugreifen: All das darf er seitdem nicht mehr.

Vor zwei Jahren bekam Mayr eine Kur in einer Reha-Klinik bewilligt. Er glaubte nicht mehr daran, dass es ihm je wieder besser gehen würde. Der Psychologin Katharina Huber* konnte er in der ersten Sitzung nicht in die Augen schauen. Ab dem dritten Treffen klappte es aber.

Von einem Minigolfplatz in Bayrischzell führt der Weg in die Höhe Foto: Simon Wörz

Huber war anders als die Ärzte und Ärztinnen, die er zuvor um Hilfe gebeten hatte. Zum ersten Mal fühlte er sich verstanden. „Diese Frau hat irgendwas“, sagt Mayr und kann seine Freude kaum zurückhalten. Er klatscht in die Hände und ruft: „Jaaa, die Frau Huber!“ Ist er nervös, holt er sein Handy hervor und schaut ein Foto von ihr an, das beruhigt ihn. Mit ihrer Hilfe hat er gelernt, wieder Bahn zu fahren. Wenn die Angst komme, solle er tief durchatmen und sagen: „Stopp, ich kann das.“ Ohne seine Psychologin würde er heute nicht mehr leben, meint er. Huber war es auch, die ihn ermutigte, wieder mit dem Wandern anzufangen.

Mayr blickt auf die Bergkette auf der anderen Talseite. Da drüben war er vor drei Wochen. Andere Wan­de­r:in­nen wollen ihm manchmal nicht glauben, dass er, der Behinderte, ganz allein in den Bergen unterwegs ist. Dann erwidert er: „Trauen Sie mir das doch zu!“

Nun beginnt das große Fotoshooting. „Hochkant und bitte keine anderen Menschen auf dem Bild“, instruiert er die Leute, denen er seine Kamera in die Hand drückt. Eine Viertelstunde blockiert Mayr das Gipfelkreuz für seine Erinnerungsfotos. Er braucht sie, schaut sie immer wieder an, wenn er einmal nicht schlafen kann.

Zügigen Schritts läuft Mayr schließlich wieder bergab. Links und rechts vom langsam wieder breiter werdenden Waldweg rauschen Bäche durch das abgelegene Tal. Beim Abstieg macht er selten Pausen. Nur einmal setzt er sich auf einen moosbewachsenen Baumstumpf und schließt für ein paar Sekunden die Augen. Abschalten, an nichts denken – „das lerne ich noch“.

Unten angekommen, legt Mayr sich auf eine Wiese. Die Knie leicht angewinkelt, einen Arm auf den Ellenbogen gestützt, schaut er noch einmal hoch zum Gipfelkreuz. Von hier sieht der Berg aus wie ein bewaldeter Hügel. Manchmal träume er nachts von den Bergen, sagt Mayr. Am liebsten zöge er morgengleich wieder los.

*Namen geändert