Gewerkschaftsproteste in Wisconsin: "Es ist ein Kampf ums Überleben"
Die Republikaner wollen die Reste der US-Gewerkschaften demontieren, meint Lawrence Mishel. Für deren Zukunft ist er gewiss: "Etwas wird entstehen". Man wisse nur noch nicht, was.
taz: Herr Mishel, in Wisconsin sieht es so aus, als entstünde in den USA eine neue Arbeiterbewegung.
Lawrence Mishel: Wenn es bloß so wäre …
Worum geht es dann?
Die Republikaner versuchen die letzten Reste der US-Arbeiterbewegung zu demontieren. Für die Gewerkschaften ist es ein Kampf ums Überleben.
Warum tobt dieser Kampf gerade jetzt und in Wisconsin?
Die Staaten im industriellen Midwest und Mid-Atlantic sind die stärksten Gewerkschaftsstaaten überhaupt und traditionell demokratisch. Aber im November haben die Republikaner dort bei den Kongresswahlen und den Gouverneurswahlen gewonnen. Jetzt machen sie sich an die Gewerkschaften. Aber sie haben damit in ein Wespennest gestochen.
LAWRENCE MISHEL ist Wirtschaftswissenschaftler und seit 2002 Präsident des auf Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen spezialisierten Economic Policy Institute in Washington. Er ist Autor des bereits in elf Auflagen veröffentlichten Standardwerkes "The State of Working America".
Seit zwei Wochen wird in Wisconsin protestiert. Es geht darum, das das gewerkschaftsfeindliche Spargesetz von Gouverneur Scott Walker zu verhindern. In zahlreichen Städten fanden am Wochenende Kundgebungen statt; die größte davon in Madison, wo 70.000 bis 100.000 Menschen rund um das seit Wochen von mehreren hundert Leuten besetzte Capitol von Wisconsin demonstrierten.
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Die Forderungen: das Recht auf Tarifverhandlungen und um die Finanzierung der Gewerkschaften. Beides will Walker radikal beschneiden. Die Begründung des Republikaners: "Dann haben die Gemeinden mehr Flexibilität."
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Es geht es nicht mehr um die Erhöhung der Eigenbeteiligung der 300.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes von Wisconsin an ihrer Kranken- und Rentenversicherung. Dieser Sparmaßnahme, die für die Beschäftigten Lohneinbußen von mehr als 7 Prozent bedeutet, haben die Gewerkschaften zugestimmt. (taz)
Was ist von den Gewerkschaften in den USA noch übrig?
Im Privatsektor nicht viel. Nur in bestimmten Industrien und an bestimmten Orten spielen sie eine Rolle.
Und im öffentlichen Dienst?
Da haben sie zwar nie besonders hohe Löhne und Sozialleistungen durchsetzen können, aber sie haben beachtliche Mitgliederzahlen: 35 Prozent im nationalen Durchschnitt, in manchen Bundesstaaten viel mehr.
Der republikanische Gouverneur von Indiana, Mitch Daniels, hält die Gewerkschaften für die stärkste Lobby in den USA, stärker als die Öllobby.
Das ist ein Witz. Wenn die Gewerkschaften tatsächlich so stark wären wie die Ölindustrie, würden sie jede Menge Subventionen bekommen. Jetzt im Ernst: Die Gewerkschaften sind die stärkste Lobby auf der Seite der Beschäftigten, obwohl sie in einigen Bundesstaaten keine Tarifverträge abschließen und in den meisten Staaten nicht einmal streiken dürfen.
So etwas wie Sozialpartnerschaft gibt es in USA nicht?
In Deutschland werden Regeln festgelegt, die für alle gelten, für gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte wie für nichtorganisierte. In den USA hingegen bestimmen Walmart und andere gewerkschaftsfreie Niedriglohnarbeitgeber die Regeln. Wir haben hier einen gesetzlosen Arbeitsmarkt. Die Leute können die meisten Rechte am Arbeitsplatz nicht durchsetzen. Nicht einmal solche, die von der Regierung garantiert sind.
Welche Rechte meinen Sie?
Nehmen Sie den Mindestlohn oder die Überstundenentlohnung. Für Beschäftigte mit niedrigen Löhnen ist es manchmal schwer, überhaupt an ihre Löhne zu kommen. Darum gibt es ja die "Worker's Centers", die jede Menge Energie darauf verwenden, fällige Löhne einzukassieren, die zum Beispiel eingewanderten Arbeitern für geleistete Arbeit zustehen. Das ist eine komplett andere Situation als in Europa.
Welche Zukunft haben die Gewerkschaften, wenn in der Privatwirtschaft nur 6,9 Prozent und im öffentlichen Dienst nur 35 Prozent der Beschäftigten bei ihnen organisiert sind?
In den Zwanzigerjahren haben Fachleute Bücher über das Ende der amerikanischen Arbeiterbewegung geschrieben. Und dann kam es in den Dreißigern zu dem Aufstieg der Industriegewerkschaften. Wir wissen nicht, was da entstehen wird, aber etwas wird entstehen.
In Wisconsin ist viel die Rede von der Middle Class. Sie hingegen sprechen von Arbeitern. Um wen geht es nun?
In den USA identifizieren sich die meisten Leute mit der Middle Class.
Ist das Semantik?
Nicht nur. Es geht auch darum, wie Amerikaner sich selbst sehen. Das ist anders als in Europa.
Präsident Barack Obama hat die "Attacke gegen die Gewerkschaften" kritisiert. Die 14 demokratischen Senatoren in Wisconsin verhindern durch ihre Abwesenheit eine Abstimmung im Senat. Wie bewerten Sie die Rolle der Demokraten in diesem Konflikt?
Die Demokraten zeigen einiges an Rückgrat. Ich bin überrascht und sehr erfreut. Ich finde, der Präsident hat das Nötige getan. Wir haben jetzt eine Debatte in diesem Land. Und da sollte jeder mitmachen.
Allerdings haben auch demokratische Gouverneure in New York und Kalifornien radikale Sparprogramme angekündigt. Ist das ein politisches Handicap für die Demokraten?
Wir haben eine riesige Rezession. Und die Einnahmen in den Bundesstaaten sind tief eingebrochen. Sie müssen ihre Budgets ausgleichen. Das wird unweigerlich zu Kürzungen bei den Ausgaben der Bundesstaaten führen - zu niedrigeren Löhnen und zu höheren Eigenbeteiligungen der Beschäftigten bei der Kranken- und der Rentenversicherung.
Machen Demokraten und Republikaner eine ähnliche Politik?
Was in Kalifornien und was in Wisconsin passiert, ist qualitativ völlig unterschiedlich. Der republikanische Gouverneur in Wisconsin will mit seinem Haushaltsgesetz dafür sorgen, dass die Gewerkschaften jedes Jahr eine amtliche Zulassung einholen müssen, dass sie ihre Mitgliedsbeiträge nicht mehr vom Lohn abbuchen können und dass sie nicht mehr über Löhne oberhalb der Inflationsrate verhandeln dürfen.
Sind Lohnkürzungen der richtige Weg, um Haushalte auszugleichen?
Manche dieser Gouverneure haben die Steuern gekürzt, bevor sie jetzt den Beschäftigten die Löhne kürzen. So läuft es in diesem Land. Die wohlhabenden Leute, die Geschäftsleute, verlangen Steuerkürzungen. Das ist eine Sache, die politisch geregelt werden muss.
Welchen Einfluss wird der Konflikt auf die Präsidentschaftswahl haben?
Die Politik in diesem Land ist sprunghaft. Wir hatten eine starke Reaktion auf George W. Bush, die zur Wahl von Obama führte. Das wiederum löste eine starke Reaktion auf Obama aus, und die führte im November zum Wahlerfolg der Republikaner. Was die Republikaner jetzt tun - sowohl in den Bundesstaaten als auch auf der nationalen Ebene, wo sie Frauenrechte, Umweltschutz und Arbeitsrecht attackieren -, wird ebenfalls Reaktionen provozieren. Ich haben den Eindruck, dass sie alles tun, um starke Kräfte gegen sie auszulösen.
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