Gewerkschafterin über Schulvergleich: "Eltern gehen auf die Barrikaden"
Der Leistungsdruck in Bayern geht auf Kosten der Gerechtigkeit, sagt Gewerkschafterin Marianne Demmer. Der Leistungsstress beginne dort bereits in den Grundschulen.
taz: Frau Demmer, die Herkunft bestimmt immer noch wesentlich die Schulleistung. Haben die Länder aus zehn Jahren Pisa nichts gelernt?
Marianne Demmer: Sie sind auf jeden Fall nicht energisch gegen soziale Ungleichheit vorgegangen und haben nicht konsequent an der Leseförderung gearbeitet. Tausende bunte Blumen sind erblüht, um Schüler besser im Lesen zu fördern. Aber niemand hat überprüft, welche dieser Projekte eigentlich etwas bringen.
Gerade beim Lesen klaffen die Leistungen weit auseinander, was läuft schief?
ist Grund- und Hauptschullehrerin. Sie trat 1970 in die GEW ein. Seit Juni 1997 leitet sie auf Bundesebene den Vorstandsbereich Allgemeine Schulen.
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Ländervergleich Bildungsstandards
Was sie messen: Bildungsstandards legen fest, was Neuntklässler in allen Bundesländern können müssen, um den mittleren Schulabschluss zu schaffen. Für den aktuellen Ländervergleich im Auftrag der Kultusministerkonferenz haben rund 36.000 Schüler aller Schularten (außer Förderschulen) Tests in Deutsch und Englisch, in sechs Ländern auch in Französisch absolviert. Statt Noten vergeben die Forscher Kompetenzstufen von I (unter dem Mindestniveau) bis V (außerordentlich gut).
Was sie zeigen: Die am Mittwoch vorgestellten Ergebnisse dokumentieren ein Nord-Süd-Gefälle: Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen liegen über dem bundesdeutschen Leistungsdurchschnitt, deutlich unterdurchschnittlich haben die Stadtstaaten und Brandenburg abgeschnitten. Im Norden ist allerdings der Zugang zum Gymnasium gerechter. Bis zu 25 Prozent der Schüler, die einen mittleren Schulabschluss anstreben, erreichten nicht das erforderliche Mindestniveau.
Es gibt nach wie vor sehr viele sogenannte funktionale Analphabeten, über deren Probleme die Länder bisher gnädig hinweggesehen haben. Für Migranten sollte es in allen Schulformen der Sekundarstufe I die Möglichkeit einer individuellen Sprachförderung geben. Was man sich als Muttersprachler zusammenreimen kann, etwa Fachbegriffe, dafür brauchen jene, die Deutsch als Fremdsprache lernen, Ansprechpartner. Aber man geht bei der Lehrerzuweisung immer noch leichtfertig davon aus, dass Schüler, die aus der Grundschule kommen, lesen können.
Woher kommen die riesigen Unterschiede in den Leseleistungen? Bremen liegt ein Schuljahr hinter Bayern.
Schaut man sich das oberste Leistungsspektrum an, sind die Unterschiede gar nicht so riesig, auch die gescholtenen Stadtstaaten sind relativ gleichauf mit Bayern. Aber in der Gruppe der Leistungsschwächeren schneiden sie schlecht ab. Ich vermute, dass die Zusammensetzung der Schülerschaft großen Einfluss hat. Die Gruppe der Migrantenkinder ist in den Stadtstaaten etwa doppelt so groß wie in Bayern.
Widrige Umstände sind eine Erklärung, aber was läuft besser in bayerischen Schulen?
Das wurde leider nicht untersucht. Es mag sein, dass sich der höhere Leistungsdruck in Bayern positiv auf die Leistungen auswirkt, aber er geht mit Sicherheit auf Kosten der Gerechtigkeit. In Bayern gehen Eltern auf die Barrikaden, weil der Leistungsstress in den Grundschulen bereits ab der dritten Klasse vor dem Übergang auf weiterführende Schulen so hoch ist.
In Berlin gehen Kinder sechs Jahre zur Grundschule, die Leistungen hängen aber noch stärker als in Bayern von der Herkunft ab.
Berlin hat eine sehr viel heterogenere Schülerschaft als Bayern. Zwei Schuljahre länger ohne die entsprechenden Förderkapazitäten können dies nicht wettmachen. Aber die soziale Auslese beim Übergang aufs Gymnasium ist in Berlin bei weitem nicht so ungerecht wie in Bayern.
Die Leistungen der Gymnasiasten sind aber schlechter. Wie bringt man beides zusammen: Leistung und Gerechtigkeit?
Inklusive Schulsysteme sind der beste Weg, um beides auf einen Nenner zu bringen. Wenn nämlich alle Schüler - wie in der Grundschule - gemeinsam lernen, können die Lehrerinnen und Lehrer erst gar nicht auf die Idee kommen, sich zu fragen, ob ein Kind nicht vielleicht besser an einer anderen Schulformen aufgehoben wäre. Sie sind dann gleichsam gezwungen, sich um jedes Kind zu kümmern, individuell zu fördern und auf guten Lernbedingungen zu bestehen.
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