Gewalt gegen Lehrer: „Hurensohn ist sehr beliebt“

Was geht ab an Berlins Schulen? Eine Lehrerin aus Neukölln über Schüler, die Grenzen verletzen, und mangelnde Solidarität im Lehrerzimmer.

Tür auf. Guten Morgen! – „Sie schon wieder, verpissen Sie sich doch mal!“ Foto: dpa

„Ich bin Lehrerin an einer Sekundarschule in Neukölln. Mein Job ist es, Schülern Englisch beizubringen. Tatsächlich geht es aber oft vor allem darum, überhaupt die Bedingungen für Unterricht zu schaffen: ‚den primären Handlungsvektor Unterricht aufrechterhalten‘, so heißt das in den Seminaren im Referendariat.

Gewalt spielt eine Rolle in meinem Beruf. Verbale Beleidigungen gehören zum Alltag: du Fotze, du Opfer, du dumme Kuh, du Schwuchtel. Hurensohn ist auch sehr beliebt. Die Hemmschwelle ist da nicht sehr hoch.

Man muss abwägen: Wo kämpft man, und was schluckt man runter? Wenn man mit ‚Och nö, Sie schon wieder! Verpissen Sie sich doch mal‘, begrüßt wird, sage ich oft einfach ‚Na, xy, haben wir mal wieder einen schlechten Tag erwischt?‘ Aber diese humorvolle Haltung kann ich mir leisten, weil ich sie mir erarbeitet habe. Die Schüler wissen, die Becker ist streng und organisiert, aber fair.

Ich sage immer, das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche funktioniert. Positive Reizverstärkung nennt man das in der Pädagogik. Bei einigen Dingen bin ich absolut konsequent. Wenn jemand sein Handy im Unterricht benutzt und dann explodiert, weil ich das Handy einkassiere, suspendiere ich den Schüler und lade die Eltern vor.

Im Schuljahr 2015/16 meldeten 484 Schulen (2010: 394 Schulen) rund 4.000 Gewaltvorfälle (2010: 2.100). 60 Prozent waren leichtere Delikte wie Beleidigungen (2010: 50 Prozent). Berlin hat rund 700 öffentliche Schulen.

Am meisten Gewaltvorfälle meldete 2015/16 der Bezirk Lichtenberg mit 100 Übergriffen gegen Lehrpersonal. Am wenigsten meldete Tempelhof-Schöneberg mit 17 Fällen. Neukölln liegt auf Platz fünf (56 Fälle).

Die Schulen sind nicht verpflichtet, der Schulaufsicht weniger schwere Gewaltvorfälle wie Mobbing oder leichte Tätlichkeiten zu melden. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte im November angekündigt, das Meldeverfahren 2017 auszuwerten. Möglich ist, dass es dann eine Debatte über eine grundsätzliche Meldepflicht gibt.

Ein im Januar von der Bildungsverwaltung beschlossenes Programm gegen Gewalt an Schulen will auf die steigenden Meldezahlen reagieren – unter anderem mit einer Aufstockung der Jugendsozialarbeit und einem Präventionskonzept, das jede Schule erarbeiten soll. (akl)

Obszöne Zeichen mit der Zunge

Einmal hat mich ein älterer Schüler in der Cafeteria wirklich eklig behandelt. Ich hatte alleine Aufsicht, das hat der Schüler gesehen und gedacht, er könne die Situation ausnutzen. Also hat er versucht, sich in der Hot-Dog-Schlange vorzudrängeln. Als ich ihn zum zweiten Mal deswegen ermahnt hatte, trat er hinter mich und fing an, obszöne Bewegungen mit der Zunge zu machen.

Wenn man sich das als junge Lehrerin gefallen lässt, spricht sich das rum. Also habe ich ihm gesagt: Du hast bei mir eine Grenze überschritten, du hast nicht bloß Arschloch gesagt, das hier geht tiefer. Ich rufe jetzt deine Mutter an, und das gibt eine Anzeige bei der Polizei. Da ist er ausgetickt, Sie Fotze, Hure, und so weiter.

Inzwischen hält mir der Schüler die Tür auf und ist überhaupt sehr höflich, und er hat sein Verhalten sogar von sich aus in der Klasse thematisiert.

Ich glaube übrigens nicht, dass er das gemacht hat, weil er Angst vor mir hat, sondern weil er mein Verhalten respektiert. Er hat begriffen, dass ich ihn nicht fertig machen wollte, sondern dass es mir um etwas Grundsätzliches geht: dass sein Verhalten frauenfeindlich und diskriminierend war. Man kann hart sein, aber man muss gerecht sein. Es geht ja nicht ums Kleinmachen: Der Wille muss da sein, tatsächlich eine Beziehung zu den Schülern aufbauen zu wollen, sich für sie zu interessieren. Das spüren die auch schnell, und dann wird man auch nicht mehr Fotze genannt.

Man ist ja Opfer, man schämt sich

Ein Problem ist, dass es im Kollegium oft keine einheitlichen Absprachen gibt, wie man mit gewalttätigen Schülern umgeht. Es braucht Solidarität im Lehrerzimmer und die Zeit und den Mut, solche Vorfälle zu thematisieren. Die Schulleitung fand die Anzeige gegen den Schüler zum Beispiel übertrieben.

Gewalt durch Schüler ist auch schnell ein Tabuthema: Man ist ja Opfer, man schämt sich. Kein Lehrer steht gerne im Verdacht, mit seinen Schülern nicht klar zu kommen.

Ob Gewalt gegen Lehrer zugenommen hat? Ich weiß es nicht, gefühlt würde ich sagen: Die Qualität ist mitunter eine andere, vor allem auch durch die Neuen Medien. Ich bin in Marzahn zur Schule gegangen, natürlich haben wir damals auch Scherzanrufe bei den Lehrern zu Hause gemacht. Aber wenn mir eine Kollegin erzählt, dass sie ein Video über ihre Unterrichtsstunde nebst Hasskommentaren im Netz findet, ist das etwas anderes.

Meine Schule leistet sich zusätzliche Sozialarbeiterstellen über das Bonusprogramm [ein Senatsprogramm für Schulen in schwieriger Lage, d. Red.]. Aber im Prinzip bräuchten wir noch viel mehr Sozialpädagogen, eigentlich einen pro Klasse. Wir bräuchten als Schule außerdem dringend ein pädagogisches Grundkonzept, ein festes Regelwerk, wie wir mit welchen Verstößen ganz konkret umgehen: Der hat mich Hure genannt, was kann ich tun? Kann ich den Schüler deswegen suspendieren? Oder kann ich ihm helfen, es wieder gutzumachen? So eine detaillierte Handlungsanweisung würde auch gerade jungen Kollegen helfen.

Eh keine Perspektive?

Man muss aber auch sehen: Es hat nicht nur etwas mit der Ausstattung der Schulen zu tun. Wenn wir Schulen haben, wo ein Großteil der Schüler ohne Abschluss abgeht, dann kann das nicht sein. Natürlich fragen sich die Schüler: Wenn ich eh keine Perspektive habe, warum soll ich mich dann benehmen, warum soll ich mich anstrengen? Oft ist die Ursache von Gewalt Armut in den Familien und ein Mangel an Perspektiven. Da nützen dann auch zehn Sozialpädagogen mehr nichts. Wir brauchen ein gerechteres Schulsystem.

Ich bin eine Anhängerin der Gemeinschaftsschule. Die Idee einer Schule für alle gefällt mir. Ich glaube, dieses Separieren bringt nichts: Hier die Schulen, an denen es läuft, da der Rest. Das zementiert nur Perspektivlosigkeit.“

Helena Becker heißt eigentlich anders. Becker hat Englisch und Biologie auf Lehramt studiert und unterrichtet seit vier Jahren an einer Neuköllner Sekundarschule. Sie liebt ihren Job.

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