Gewalt bei der Behindertenhilfe: Nicht bloß ein Klaps
In Potsdam stand eine Pflegerin des Oberlinhauses vor Gericht. Vor vier Jahren wurden in der Einrichtung Menschen mit Behinderung getötet.
Die Auszubildende schildert eindrücklich, wie ihre Kollegin, die 56-jährige Esther K., die Bewohner*innen beleidigt, geschubst und sogar geschlagen haben soll. Auch soll sie einen Bewohner mehrfach gezwungen haben, Essen zu sich zu nehmen. Die Zeugin führt an ihrer Mutter vor, wie Esther K. dafür den Kopf des taubblinden Mannes nach hinten überstreckte und ihm gewaltsam klein geschnittenes Brot und ein anderes Mal Suppe einführte. Dieser habe seine Zähne zusammengebissen und den Kopf zur Seite gedreht. „Er wollte eindeutig nicht essen.“
Doch Esther K. war das egal. Einsichtig zeigt sie sich vor Gericht nicht, weder bei diesen noch bei den anderen Vorwürfen, die sie zwar nicht abstreitet, aber herunterspielt. „Er hatte ein Grinsen im Gesicht“, sagt sie zur Rechtfertigung der Zwangsernährung. Und: „Er testet gerne mal die Mitarbeiter.“
Für die Auszubildende ist das nicht nachvollziehbar. „Jemand, der nicht versteht, dass diese Menschen schwer körperlich und geistig behindert sind und das nicht aus bösem Willen machen, sollte in diesem Bereich nicht arbeiten“, findet sie. Zumal der betroffene taubblinde Bewohner sehr verstört reagierte: „Er hat geschrien und sich ans Ohr geschlagen. Es war klar zu sehen, dass es ihm nicht gut ging.“
Esther K., die seit zehn Jahren in der Einrichtung arbeitete, habe ihr gesagt, dass das zwar grob aussehe, aber normal sei, und sie aufgefordert, dasselbe zu tun. „Ich habe ihm die Hand an die Stirn gelegt. Aber ich habe gemerkt, das fühlt sich nicht richtig an und es gelassen“, sagt die junge Frau.
Misshandlung von Schutzbefohlenen
In insgesamt acht Fällen soll Esther K. im Eckard-Beyer-Haus des Oberlinhauses Bewohner*innen „gequält und roh misshandelt“ haben. Die Anklage lautet auf Misshandlung von Schutzbefohlenen „aus gefühlloser, das Leben und Leiden missachtender Gesinnung“. Strafmaß: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren pro Fall.
Bei einem dieser Fälle holte die Auszubildende ihre Kollegin Esther K. zu Hilfe, um einen taubblinden Mann, der an Parkinson erkrankt ist, aus der Wanne zu holen. Weil es der aber nicht schnell genug ging, soll sie ihn angeschrien haben – wohl wissend, dass er nicht hören kann. Als das nicht half, soll sie dem nackten Mann, der auf allen Vieren in der leeren Wanne hockte, mit der flachen Hand auf die Fußsohlen geschlagen haben. „Er hat daraufhin geschrien und sich in die Hand gebissen. Ich war wie erstarrt und habe mich hilflos gefühlt“, berichtet die Auszubildende.
Der Staatsanwalt wirft Esther K. vor, dass sie mit den Schlägen ihre Macht demonstrieren wollte. Wie auch in anderen Fällen, in denen sie Bewohner*innen auf die Hände geschlagen haben soll, wenn sie diese in die Hose oder unter das Shirt steckten. Oder als sie einen geistig beeinträchtigten Bewohner angeschrien, geschubst, in sein Zimmer gesperrt und mit Essensentzug bestraft haben soll, weil er ohne Erlaubnis Essen aus der Küche genommen hatte.
Während der Staatsanwalt die Vorwürfe vorträgt, sitzt die kleine, blasse, stämmige Frau mit reglosem Gesichtsausdruck auf der Anklagebank. „Meine Mandantin ist sich keiner Schuld bewusst und versteht die Welt nicht mehr“, sagt ihr Anwalt, bevor Esther K. selbst das Wort ergreift.
Sie blättert in ihrem Block, versucht, die Vorfälle zu erklären. Ein Antippen sei es gewesen, kein Schlagen, sagt sie. An anderer Stelle spricht sie von einem „kleinen Klaps“, es klingt nicht nach Problembewusstsein. Über einen geistig behinderten Bewohner mit, wie sie sagt, „herausforderndem Verhalten“ sagt sie: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass er das mit Absicht macht.“ Die Vorwürfe findet sie „teilweise echt überzogen“. Warum die Auszubildende sie ohne Grund belasten sollte? „Ich weiß nicht, vielleicht ist sie zu behütet aufgewachsen.“
Als der Richter fragt, ob sie aus Überforderung so gewalttätig regiert habe, schüttelt sie bestimmt den Kopf. „Natürlich bin ich auch mal überfordert, aber das lasse ich nicht an den Bewohnern aus.“
Der Vorwurf der Misshandlung von Schutzbefohlenen wird am Ende fallen gelassen. Zwar gibt es eine eindrückliche Zeugenaussage, aber keine nachweisbaren Verletzungen. Der Richter spricht von einem „Grenzfall“. Esther K. wird am 27. Mai wegen Nötigung und Körperverletzung zu zehn Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, sowie die Zahlung von 2.000 Euro an den Allgemeinen Behindertenverband verurteilt.
Ableismus tötet
Begleitet wurde der Prozess von einer antiableistischen Gruppe von jungen Leuten, von denen viele selbst eine Behinderung haben. Auf ihren Shirts steht mit großen Lettern: „Ableismus tötet“. Ableismus beschreibt die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, indem man sie auf ihre Beeinträchtigungen reduziert. Die Aktivist*innen zeigen sich enttäuscht von dem Urteil. „Wenn die Gewaltvorfälle in einer anderen Einrichtung, zum Beispiel einer Kita vorgefallen wären, wo die Schutzbedürftigkeit gesellschaftlich anerkannter ist, wäre das Urteil anders ausgefallen“, ist Sprecher*in Noah überzeugt. Angesichts der fehlenden Einsicht von Esther K. befürchten sie zudem, dass die Pflegerin wegen des Fachkräftemangels trotz Verurteilung weiter in dem Bereich arbeiten könnte.
Zumindest im Oberlinhaus ist das ausgeschlossen. Esther K. sei nach dem Urteil „umgehend gekündigt“ worden, teilte eine Unternehmenssprecherin mit. Auch seien alle Mitarbeiter*innen über die Vorwürfe und das Urteil informiert worden, um klarzumachen, dass keine Gewalt geduldet werde.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine Mitarbeiterin des Oberlinhauses Gewalt gegen die schwerbehinderten Bewohner*innen ausübt. Im Dezember 2021 wurde eine langjährige Pflegekraft des Trägers wegen Mordes und versuchten Mordes sowie der Misshandlung von Schutzbefohlenen zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die damals 51-jährige Ines R. hatte am Abend des 28. April 2021 im Thusnelda-von-Saldern-Haus fünf Bewohner*innen auf ihren Zimmern mit einem Messer angegriffen. Vier gelähmte Bewohner*innen verbluteten in ihren Betten, eine weitere überlebte schwerverletzt.
Der Richter sprach in seiner Urteilsverkündung neben einer „enormen inneren Wut“ auch von einer „erdrückenden Arbeitslast“. Von Inklusions-Aktivist*innen wurde das scharf kritisiert: Viel sei im Prozess, aber auch in der Berichterstattung, von Überforderung bei der Arbeit und vom Notstand in der Pflege die Rede gewesen – als wäre das eine Rechtfertigung für Mord. Die Opfer Lucille H., Martina W., Christian S. und Andreas K. kamen jedoch nur am Rande vor.
Dass Menschen mit Behinderungen unsichtbar gemacht werden, kritisiert auch die antiableistische Gruppe in Potsdam im Prozess um Esther K. „Wurde mit den Bewohner*innen überhaupt gesprochen?“, fragt Sprecher*in Noah. Vor Gericht war davon zumindest keine Rede. Die Gruppe ist sich darüber einig, dass die „ableistische Grundhaltung“ von Esther K. eine Folge der Strukturen in Behinderteneinrichtungen ist. „Gewalt gegen behinderte Menschen wird durch ausgrenzende und diskriminierende Strukturen erst ermöglicht“, so Noah.
Tatsächlich sind die Vorfälle im Oberlinhaus keine Einzelfälle. Menschen mit Behinderung werden überdurchschnittlich oft Opfer von Gewalt. Laut Studien im Auftrag des Bundessozialministeriums von 2024 haben über 60 Prozent der Befragten, die in Wohneinrichtungen leben, psychische Gewalt erfahren, etwa in Form von Beleidigungen, Anschreien, Demütigungen oder Drohungen. Mehr als die Hälfte berichtet von körperlicher Gewalt. Die Täter*innen sind demnach häufig andere Bewohner*innen, aber auch Betreuungspersonal.
„Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ist an der Tagesordnung“, sagt auch Marcus Gaubner, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes. „Das zieht sich durch alle Einrichtungen.“ Für Gaubner stimmt das Verhältnis zwischen Menschen mit Behinderung und Betreuer*innen nicht. Es fehle an Selbstbestimmung – aber auch an Empathie. „In die Ausbildung von Pflegekräften muss eine psychologische Komponente rein“, fordert er. Außerdem brauche es mehr unangemeldete Kontrollen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Laut dem Brandenburger Landesamt für Soziales werden Einrichtungen wie das Oberlinhaus alle zwei Jahre geprüft. Hinzu kommen anlassbezogene Kontrollen bei Hinweisen auf Missstände. Teil des Prüfkonzepts sei seit 2018 auch die Prävention von Gewalt. Die letzte Prüfung des Oberlinhauses fand im März 2024 statt. Nach den neuerlichen Gewaltvorfällen wurde offenbar nachgebessert: Laut Heimaufsicht gibt es nun Gespräche zwischen Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen zum Thema Selbstbestimmung. Zudem würde die Einrichtungsleitung in den Wohngruppen hospitieren, um sich einen Überblick über den Umgang zu verschaffen und auch die Antidiskriminierungsbeauftragte werde einbezogen.
Für den Inklusions-Aktivisten Raúl Krauthausen ist das zu wenig. Er wundert sich, dass es für die Leitung keine Konsequenzen gab – weder nach den Morden noch nach den neuerlichen Gewalttaten. „Niemand hat etwas gesehen oder gewusst“, kritisiert Krauthausen. Auch die Bewährungsstrafe für Esther K. hält er für zu gering. „Behindertes Leben wird scheinbar anders bewertet als nicht behindertes.“
Nach den Morden im Oberlinhaus gründete Krauthausen mit anderen Aktivist*innen das Projekt #AbleismusTötet. Neben kurzfristigen Maßnahmen wie einem Mitbestimmungsrecht für die Bewohner*innen von Behinderten-Einrichtungen und gesetzlichen Mindeststandards für Gewaltschutzkonzepte fordern die Aktivist*innen einen grundlegenden Wandel: Wegen der gewaltfördernden Struktur und ihres segregierenden Charakters sollten vollstationäre Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen generell abgeschafft werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Fahrradfeindlicher Nahverkehr
Mein Fahrradproblem und was die Öffis damit zu tun haben
Radikalisierung durch Gaza
Der globalisierte Hass
Proteste gegen Abschiebungen
Trump entsendet Nationalgarde nach Los Angeles
Beitragsbemessungsgrenze
SPD erwägt Erhöhung der Gesundheitsbeiträge
Neuausrichtung des Aktivismus
Parlament im Kuppelzelt
Repression gegen Palästina-Solidarität
Davidsterne und rote Dreiecke