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Gewalt, Kälte, Empathielosigkeit

Eine Studie untersucht, wie sich der steigende Antisemitismus in Deutschland auf Juden*-Jüdinnen auswirkt. Antidiskriminierungsbeauftragte Ataman leitet daraus Forderungen ab

Erinnert an „dunkle Zeiten“: Erfahrungen jüdischer Menschen seit dem 7. Oktober Foto: Stefan Boness

Von Frederik Eikmanns

In Deutschland macht sich vermehrt Antisemitismus breit, das zeigen Statistiken klar. Weitgehend unerforscht ist aber, was das für die einzelnen Ju­den*­Jü­din­nen bedeutet. Diese Lücke soll eine Studie füllen, deren Zwischenergebnisse die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman und Zentral­ratspräsident Josef Schuster am Dienstag vorstellten. Schuster sprach von „dramatischen“ Befunden, die an „dunkelste Zeiten deutscher Geschichte“ erinnerten.

Die Studie fußt auf Interviews, Gruppendiskussionen und schriftlichen Aufzeichnungen mit 111 Ju­den*­Jü­din­nen seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Die Stu­di­en­au­to­rin­nen Marina Chernivksy und Friederike Lorenz-Sinai beschreiben das Massaker an rund 1.000 israelischen Zi­vi­lis­t*in­nen als traumatische Erfahrung auch für Ju­den*­Jü­din­nen hierzulande. Die gezielt in sozialen Medien verbreiteten Videos der Gewalt wühlten historische Erinnerungen an Schoah und Pogrome auf – genauso wie an individuelle Gewalterfahrungen, die viele Betroffene in der Vergangenheit gemacht haben. Chernivksy spricht von einer „starken affektiven Überwältigung“ der Studienteilnehmenden dadurch.

Zusammen mit den in Deutschland zunehmenden antisemitischen Vorfällen sei bei Ju­den*­Jü­din­nen ein Gefühl existenzieller Unsicherheit entstanden. Neben aufsehenerregenden Gewalttaten wie dem brutalen Angriff auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira Anfang 2024 in Berlin geht es dabei auch um viele kleinere Vorfälle. Allein wer in der U-Bahn Hebräisch spreche oder einen Davidstern als Halskette trage, müsse fürchten angeschrien oder körperlich angegangen zu werden. Was das für Ju­den*­Jü­din­nen psychisch bedeutet, verdeutlicht Chernivsky so: „Eine Interviewpartnerin beschrieb ein Gefühl zunehmender Enge: wie eine Schlinge, die sich zuzieht.“ Die Betroffenen litten an Ängsten, intrusiven Erinnerungen und körperlichen Stressreaktionen. Viele von ihnen versteckten inzwischen ihre Identität, mieden öffentliche Orte und zögen sich zunehmend zurück.

Dazu trage auch die menschliche Kälte bei, mit der das nichtjüdische Umfeld vieler Betroffener auf ihre Trauer und ihre Ängste reagiert habe. Das reiche von weitverbreiteter Empathielosigkeit und Schweigen bis zu aggressiven Schuldzuweisungen gegenüber Ju­den*­Jü­din­nen an der Gewalt in Nahost, selbst wenn sie überhaupt keine Verbindung zu Israel haben. Lorenz-Sinai berichtet von verlorenen Freun­d*in­nen und Bezugspersonen, von Zurückweisung und Vereinsamung. Auch auf Versuche, sich selbst zu schützen, reagiere das Umfeld teils ablehnend, etwa wenn Angestellten verboten werde, ihren israelischen Namen aus beruflichen Mailadressen zu entfernen, um Anfeindungen zu verhindern. Halt und Unterstützung fänden viele Betroffene dagegen in ihrer Community, bei jüdischen Beratungsstellen und in den Gemeinden.

Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ataman leitete aus den Studienergebnissen konkrete Forderungen ab. So müsse die Bundesregierung ihre Ankündigung umsetzen, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu reformieren – ein Schritt, auf den Ataman und andere Ex­per­t*in­nen seit Jahren drängen. Bislang verbietet das Gesetz nur Diskriminierung aufgrund von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder der sexuellen Identität ab – und auch das nur im privaten Sektor. Bei antisemitischer Diskriminierung durch Verwaltungsbeamte greift die Regelung bisher genauso wenig wie im Fall, dass Personen wegen ihrer israelischen Staatsbürgerschaft diskriminiert werden. Ataman: „Eine Demokratie versagt, wenn sie ihre Minderheiten nicht schützt.“

Eine weitere Lücke sind Diskriminierungsfälle an Schulen und Hochschulen, ein Bereich, der in die Verantwortung der Länder fällt. Bislang hat nur Berlin ein eigenes Landesantidiskriminierungsgesetz, beklagte Ataman. Sie forderte mehr Geld für Beratungsstellen für Betroffene von Antisemitismus.

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