Gesundheit: Ärzte verschreiben bis zur Schmerzgrenze
Bei den Pro-Kopf-Ausgaben für Medikamente liegt Berlin im Ländervergleich auf Platz 1. Hiesige Mediziner verordnen besonders viele und teure Medikamente. Zudem verschrieben sie teure Scheininnovationen, kritisieren Krankenkassen.
Nirgendwo wird soviel Geld für Medikamente ausgegeben wie in Berlin. Im letzten Jahr bekam jeder Einwohner Pillen und Pulver für durchschnittlich 446 Euro verordnet. Das sind pro Kopf 100 Euro mehr als im Flächenland Bayern und immerhin noch rund 50 Euro mehr als in einer vergleichbaren Großstadt wie Hamburg. "Mittlerweile sind die Ausgaben für Medikamente höher als für die ärztliche Behandlung", moniert die Sprecherin der AOK-Berlin, Gabriele Rähse.
Die Daten stammen aus dem aktuellen Arzneimittelatlas, den die forschende Pharmaindustrie am Donnerstag herausgab. Trotz der preissenkenden Gesetze, die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) den Herstellern in den letzten Jahren aufdrückte, konnten diese steigende Gewinne verbuchen. Die Autoren des Atlas vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) begründen dies vor allem damit, dass die Menschen mehr Medikamente nähmen.
Gerade in Berlin würden mehr Kranke versorgt als anderen Bundesländern, sagt Annette Kurth, Sprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung, der Standesvertretung der hiesigen niedergelassenen Ärzte. Hinzu komme, dass ungewöhnlich viele schwere Fälle in Berlin versorgt würden. "Rund 20 Prozent aller HIV-Infizierten Deutschlands leben hier", sagt Kurth. Eine Therapie koste einige 10.000 Euro. Von dem Geld, das die Ärzte jährlich für Medikamente ausgeben dürfen, sind 40 Prozent für sogenannte Spezialpräparate vorgesehen, 10 Prozentpunkte mehr als bundesweit üblich. "Diese Präparate schlagen richtig zu Buche", so Kurth.
Die Kassenärzte haben daher angekündigt, ihr Budget in diesem Jahr wieder zu sprengen. 250 Millionen Euro mehr als die von den Kassen veranschlagten 908 Millionen Euro würden nach Rechnung der KV benötigt.
Die Kassen beharren jedoch trotz des anerkannten Sonderstatus Berlins als Krankheitsmetropole auf sinkenden Ausgaben. "Bei Volkskrankheiten wie Bluthochdruck, sehen wir Einsparpotentiale in Millionenhöhe", meint Sabine Richard, Arzneimittelexpertin der AOK Berlin. Hier verschrieben Berliner Ärzte unnötig teurer als Kollegen aus anderen Bundesländern. Kostentreibener seien vor allem Scheininnovationen - neue patentgeschützte Medikamente, die sich von althergebrachten sehr deutlich im Preis aber kaum in der Wirkung unterscheiden. Richard fordert die Kassenärztliche Vereinigung auf, endlich eine Liste dieser Analog-Präparate zu erstellen, wie es sie auch in anderen Bundesländern gibt.
Dass die Ärzte es kaum schaffen können, den Überblick auf dem Arzneimittelmarkt zu behalten, sieht auch die AOK ein: derzeit werden rund 52.000 Präparate angeboten. Pharmavertreter versuchen den Blick der Ärzte daher in die gewünschte Richtung zu lenken. Mit dem bundesweit dichtesten Netz an Facharztpraxen ist Berlin ein ideales Pflaster für die Vertreter. "Pro Woche sitzen drei bis vier bei mir im Wartezimmer", berichtet die Gynäkologin Antje Blankau. "Aber ich lasse sie alle abblitzen." Als sie sich vor 15 Jahren in Berlin niederließ, seien ihr nicht nur Medikamente sondern auch kostenlose Reisen und Zubehör für ihre Praxis angeboten worden. Sie gehe davon aus, dass andere Kollegen sich durchaus darauf einließen. Als Vertreterin der Fraktion Gesundheit im Parlament der Berliner Ärztekammer plädiert sie seit langem für eine Positivliste, auf der die Medikamente stehen, die wirksam sind und von den Kassen bezahlt werden.
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