Geschredderte NSU-Akten: „Der Skandal ist systembedingt“
Geheimdienstexperte Rolf Gössner findet den Verfassungsschutz „demokratieunverträglich“. Stattdessen sollten offen arbeitende Stellen die Neonaziszene durchleuchten.
taz: Herr Gössner, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erfahren haben, dass der Bundesverfassungsschutz wichtige Akten geschreddert hat?
Rolf Gössner: Ich habe erwartet, dass wir es bei der Aufarbeitung rund um die Taten der NSU-Zelle auch mit Beweismittelunterdrückung zu tun haben würden. Andererseits hat es mich jetzt doch schockiert, dass ein geheimes Sicherheitsorgan in einem Fall von zehnfachem Mord Akten vernichtet. Es geht dabei schließlich um V-Leute und verdeckte Operationen im Umfeld des Thüringer Heimatschutzes, jener Neonazi-Truppe, aus der der NSU entstanden ist.
Der schreddernde Beamte argumentierte offenbar mit Datenschutz. Die Löschungsfrist sei bei den betreffenden Akten überschritten gewesen.
Das halte ich für sehr unglaubwürdig. Auch wenn tatsächlich die Löschungsfristen nicht eingehalten worden sind: Wenn die Akten noch existieren zu einem Zeitpunkt, in dem die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernimmt, ist eine Vernichtung ungeheuerlich und meines Erachtens auch illegal.
Wurde hier versucht, etwas zu vertuschen?
Der Zeitpunkt deutet darauf hin. Ich kenne die Akten nicht, aber was man daraus weiß, ist so wichtig und gravierend, weil es einen unmittelbaren Bezug zu den mutmaßlichen Tätern des NSU hat.
64, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Von 1970 bis 2008 wurde er selbst vom Bundesverfassungsschutz beobachtet – rechtswidrig.
Ein Referatsleiter soll die Aktenvernichtung eigenmächtig angeordnet haben. Halten Sie das für möglich?
Fachlich und politisch verantwortlich sind der Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm und letztlich auch der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Von Fromms Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss kommende Woche erwarte ich mir aber nicht viel. Eine lückenlose Aufklärung wäre von einem Verfassungsschutzpräsidenten auch zu viel verlangt. Da etwa der Schutz von V-Leuten auch von Fromm selbst als so überragend eingeschätzt wird, ist eine rücksichtslose Aufklärung gar nicht möglich.
Sollte Fromm zurücktreten?
Ich halte hier nicht viel von personellen Konsequenzen, denn das Geheimdienstsystem würde uns erhalten bleiben. Der Skandal ist systembedingt, an den Strukturen muss angesetzt werden. Denn die Geheimdienststrukturen führen zwangsläufig zu amtlichen Verdunkelungsstrategien. Der Inlandsgeheimdienst mit dem euphemistischen Tarnnamen Verfassungsschutz ist demokratieunverträglich, weil er den demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht. Und mit seinen kriminellen V-Leute-System ist er Teil des Nazi-Problems geworden.
In der Politik ist die Empörung jetzt groß. Meinen Sie, dass das Ihrer Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes Rückenwind gibt?
Die Empörung ist jetzt groß, sicher. Aber wir haben schon oft die Erfahrung gemacht, dass sich Empörung auch schnell wieder legt. Aber die Zeit ist jetzt wirklich reif für politische Konsequenzen.
Welche Organisation soll statt des Verfassungsschutzes frühzeitig vor Gefahren warnen?
Ich plädiere für offen arbeitende Forschungs- und Dokumentationsstellen, die etwa neonazistische Strukturen analysieren. Der Vorteil: Diese Stellen wären weniger interessengeleitet und besser kontrollierbar als ein Regierungsgeheimdienst. Das wäre zum Schutz unserer Verfassung deutlich sinnvoller als das, was der sogenannte Verfassungsschutz in Jahrzehnten geboten hat.
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