piwik no script img

Geschlechterverhältnisse in AKW-NäheSag mir, wo die Mädchen sind

Untersuchungen zeigen, dass rund um Atomanlagen mehr Jungen geboren werden. Ein Humangenetiker vermutet eine höhere Strahlenempfindlichkeit des X-Chromosoms.

Die genaue Ursache der „Geschlechterlücke“ im Umkreis von AKWs ist noch immer unbekannt. Bild: dpa

BERLIN taz | Im nahen Umkreis von Atomanlagen werden weniger Mädchen geboren, als normalerweise zu erwarten ist. „Eine besonders starke Verschiebung des Geschlechterverhältnisses haben wir im Umkreis des Atommüllzwischenlagers Gorleben festgestellt“, berichtete der Biostatistiker Hagen Scherb am Freitag bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) in Berlin.

Obwohl diese Daten schon länger vorlägen, sei die genaue Ursache der „Geschlechterlücke“ noch immer unbekannt. Umso dringlicher sei es, dass endlich eine umfassende Untersuchung durchgeführt werde, forderte DUH-Sprecher Gerd Rosenkranz.

Das Phänomen der „verlorenen Mädchen“ tritt auch auf, wenn die radioaktive Strahlung weit unter den zulässigen Grenzwerten liegt. Schon nach den Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki konnte ein verändertes Geschlechterverhältnis festgestellt werden.

Bei der Diskussion über die Auswirkungen radioaktiver Strahlung spielten diese Erkenntnisse jedoch keine Rolle. Erst die Studien des Biostatistikers Hagen Scherb und seiner KollegInnen vom Helmholtz-Zentrum München brachten diese Befunde wieder in die aktuelle Diskussion.

Im Umkreis von 32 AKWs

Scherbs umfangreiche Auswertungen von Geburtsregistern konnten nicht nur zeigen, dass die Verschiebung des Geschlechterverhältnisses bei Neugeborenen nach den oberirdischen Atombombentests in den Falloutgebieten auftrat. Auch nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl trat dieser Effekt in den Falloutregionen Europas auf, jedoch nicht in den kaum betroffenen USA.

Inzwischen stellten die Biostatistiker Untersuchungen im Umkreis von weiteren 32 Atomanlagen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz an. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Überall ein ähnliches Bild. Im Umfeld der Anlagen verschob sich das Geschlechterverhältnis von Neugeborenen zugunsten der Jungen.

„Besonders drastisch ist das Ergebnis im Umfeld des Atommüllzwischenlagers in Gorleben“, sagte Scherb. In der Zeit von 1981 bis 1995 kamen dort in einem 40-Kilometer-Umkreis 6.939 Jungen und 6.922 Mädchen zur Welt, das Geschlechterverhältnis betrug 1,0025.

Ein Jahr nach Beginn der Castortransporte stieg dieser Wert stark an: Für den Zeitraum von 1996 bis 2010 berechnete Scherb einen Durchschnittsverhältnis von 1,0865. Bei insgesamt 23.135 Geburten in diesem Zeitraum gebe es somit eine „Lücke von fast 1.000 Mädchen“, so der Biostatistiker.

Niedersachsen gab eigenes Gutachten in Auftrag

Die Ergebnisse sind „signifikant“, sagte Scherb. „Sie werden auch von den etablierten Strahlenschützern nicht infrage gestellt.“ Um Scherbs Gorleben-Ergebnisse zu widerlegten, gab das Niedersächsische Landesgesundheitsamt sogar ein eigenes Gutachten in Auftrag. Das Ergebnis: Scherbs Auswertungen sind korrekt. Doch dass die Castorbehälter mit dem Atommüll die Ursache ist, daran wollen die Gegengutachter nicht glauben.

Als eine der Ursachen vermutet der Berliner Humangenetiker Karl Sperling eine höhere Strahlenempfindlichkeit des X-Chromosoms. Mädchen haben zwar zwei, und eines davon ist weitgehend deaktiviert – aber mit nur einem sind sie nicht lebensfähig. Eine Schädigung der X-Chromosomen während der Embryonalentwicklung als Ursache würde auch dazu passen, dass die Lücke mit einem Jahr Verzögerung auftritt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

18 Kommentare

 / 
  • JK
    Juergen K.

    Bekommen die "Männer" dann als Schadenersatz lebenslang Bordell-Deputat ?

  • HL
    Hauke Laging

    Auch wenn dieser Effekt existiert, muss daran nicht die Radioaktivität schuld sein.

     

    Es ist bekannt, dass die psychische Situation der werdenden Mutter das Geschlecht beeinflusst. Je nachdem, wie die Frau ihre langfristigen Überlebenschancen einschätzt, werden mehr Jungen oder mehr Mädchen geboren. Dass die Nähe zu einem AKW und die Nachricht von Fallout sich in dieser Weise auswirken können, erscheint naheliegend.

     

    Man müsste also schauen, ob sich da eine zeitliche Entwicklung feststellen lässt, und dann die Korrelationen für einerseits die objektive Strahlungsbelastung und andererseits für die Medienpräsenz des Problems untersuchen.

     

    Wer weiß, vielleicht findet sich derselbe Effekt bei den Mobilfunkmast-Panikern. ;-)

  • SW
    Steffen Weidner

    Auf der Website einer Zeitung des bösen Verlags aus Hamburg ist zu lesen, dass das Verhältnis Jungen-/Mädchengeburt in dieser Region im untersuchten Zeitraum 109/100 beträgt. Im gleichen Zeitraum zuvor 101/100. Der Durchschnitt in Dtl betrage 105/100.

     

    Es mag sich da jeder seinen Teil denken...

  • H
    hardy.schulz

    Normal wäre ein Verhältnis von 1,05 also auf 6.922 Mädchen kämen regulär 7.268 Jungen – oder 6608 Mädchen auf 6939 Jungen. Es fehlen also Jungen und nicht Mädchen!!!

    „Primäres Geschlechtsverhältnis: Das Geschlechtsverhältnis bei der Befruchtung liegt beim Menschen bei ca. 1,3 männlich zu 1,0 weiblich.

    Sekundäres Geschlechtsverhältnis: Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt liegt beim Menschen bei ca. 1,05 männlich zu 1,0 weiblich, wenn es nicht durch geschlechtsselektive Geburtenverhinderung verändert wird.

    Außerdem sind leichte natürliche Schwankungen im sekundären Geschlechtsverhältnis zu beobachten.

    Tertiäres Geschlechtsverhältnis: Das Geschlechtsverhältnis im fortpflanzungsfähigen Alter ist beim Menschen stark von historischen und sozialen Einflüssen abhängig.“

    Aus Wikipedia

  • H
    hardy.schulz

    Normal wäre ein Verhältnis von 1,05 also auf 6.922 Mädchen kämen regulär 7.268 Jungen – oder 6608 Mädchen auf 6939 Jungen. Es fehlen also Jungen und nicht Mädchen!!!

    „Primäres Geschlechtsverhältnis: Das Geschlechtsverhältnis bei der Befruchtung liegt beim Menschen bei ca. 1,3 männlich zu 1,0 weiblich.

    Sekundäres Geschlechtsverhältnis: Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt liegt beim Menschen bei ca. 1,05 männlich zu 1,0 weiblich, wenn es nicht durch geschlechtsselektive Geburtenverhinderung verändert wird.

    Außerdem sind leichte natürliche Schwankungen im sekundären Geschlechtsverhältnis zu beobachten.

    Tertiäres Geschlechtsverhältnis: Das Geschlechtsverhältnis im fortpflanzungsfähigen Alter ist beim Menschen stark von historischen und sozialen Einflüssen abhängig.“

    Aus Wikipedia

  • W
    Wunderlich

    @ Siegfried Bosch:

    Das X-Chromosom ist empfindlicher als das Y-Chromosom. Bei stark geschädigten X-Chromosomen stirbt die weibliche Frucht (XX) ab, wohingegen die männliche Frucht (XY) krank überlebt.

    Daher gibt es, übrigens immer, auch ohne AKWs, mehr Jungen als Mädchen, auch mehr kranke Jungen als Mädchen. Ist nur ein X-Chromosom beschädigt, übernimmt das gesunde. Daher ist das Mädchen mit nur einem geschädigten X-Chromosom robuster als der Junge mit geschädigtem X-Chromosom.

  • W
    Wunderlich

    Auffallend ist doch vor allem eine extreme Steigerung der Geburtenrate.

    Zuerst muss der Grund dafür genannt werden, dann die Geschlechterasymmetrie geklärt.

    Vielleicht geht es Deutschland ja so wie Indien und China. Dort werden auch mehr Jungs als Mädchen geboren.

    Vielleicht liegt es an den AKWs.

    Vielleicht an der Abtreibungsgesetzgebung.

    Who knows?

  • MB
    Manfred B.

    Ich empfehle hierzu wärmstens:

    http://www.amazon.de/So-l%C3%BCgt-man-mit-Statistik/dp/3492230385

    Viel Spaß beim Lesen!

  • H
    hmm

    Es ist leider schade, dass bei diesem wichtigen thema immer wieder sehr sehr ungenau berichtet wird. wer eh schon dagegen ist hat ein neues argument und wer versucht die beweisskette nachzufolgen stößt auf zahllose fehler und ungenauigkeiten. als leser kann ich nicht beurteilen ab der artikel ungenau und damit schlecht ist oder gar die studie.

     

    Der kommentar von bockwurst weißt bereits auf den unerklärten rasanten anstieg der geburtenrate hin. da ist aber nochmehr

     

    Bereits das Geschlechterverhältnis VOR den Castortransporten ist mit das Geschlechterverhältnis betrug 1,0025 unnormal. Der "natürliche" Durchschnitt (der räumlich und zeitlich eben variieren kann) würde 1,0600 betragen. etwas polemisch könnte man also genau so gut sagen seit dem Castor sind wir mit 1,0865 wieder näher an der Normalität.

     

    Dann relativiert sich auch die dramatische aussage der „Lücke von fast 1.000 Mädchen“ erheblich und wirkt leider propagandistisch.

     

    ein etwas genauerer folgeartikel etwa zu den auswirkungen in der gegend um tschernoby oder hiroshima wären sehr interessant und hilfreich!

  • A
    andi

    das geschlechterverhältnis lag nur bei 1,0025?

    das natürliche verhältnis liegt aber bei 1,05.

    es werden immer mehr jungs als mädchen geboren.

    aber 1,08 ist wirklich zu viel.

  • K
    KHK

    Hier liegt ein Interpretationsproblem vor. Die Annahme,es würden weniger Mädchen geboren, ist falsch. Es werden mehr Jungen geboren. Der Grung liegt in der niedrigeren Lebenserwartung von AKW-Arbeitern die wohl meistens männlich sind. Dieser Umstand wird von den AKW-Betreibern vertuscht, indem neben der Stammbelegschaft für strahlungsproblematische Arbeiten Leiharbeiter oder Arbeiter mit Zeitverträgen herangezogen werden. Dies sozialisiert die Kosten, da die Krankheits- und Sterbefälle nicht auf die AKW-Betreiber zurückgeführt werden können. Die die Geburtenrate steuernden Gesetze reagieren offenbar darauf.

  • D
    Delgado

    Bei den Zahlen von 1981-1995 hat man ja den Eindruck, dass es eine hohe Fehlgeburtenrate -Fehlgeburten sind nahezu nur männliche Föten- gegeben haben muss. Durchschnittlich liegt die Geburtenverteilung in D so, dass auf 1.000 Mädchen eher 1.060 Jungen kommen. Im Zeitraum 1947-1953 lagen die Zahlen in Deutschland im Mittel bei 1.075 Jungen auf 1.000 Mädchen. Gründe? In den USA kommt man auf 1.080 Jungen je 1.000 Mächen. Als Optimum wäre eine Geburtenverteilung von 1.200 Jungen je 1.000 Mädchen möglich. Einflussfaktoren sind neben den Umweltbedingungen (Klima, Verschmutzungsgrad, Ernährung (Menge und Art)) auch die weitere Lebensweise -Rauchen, Medikamenten usw.-. Besonderes Augenmerk ist aber auch auf das Alter der jeweiligen Eltern zu nehmen. Mit Geburten bei höherem Alter der Eltern gemeinsam oder eines Teiles davon, desto höher die Wahrscheinlichkeit Fehlgeburt. Ältere Eltern erzeugen mehr Mädchen als normal.

  • B
    Bernd

    @ Siegfried Bosch: Männer geben nicht auf, Männer bauen Atomanlagen. Darwin wäre begeistert (Grönemeier wohl auch)... ;)

  • A
    andi

    @ siegfried bosch

    in iran und in saudi arabien sterben männer auch früher!!! erzählen sie mir nicht dass im iran oder in saudi arabien frauen bevorzugt werden!! einfach mal die augen offen halten und in die welt hinausschauen!

    im übrigen wenn sie länger leben wollen dann leben sie gesünder (einer der gründe warum frauen länger leben!!) rauchen sie nicht trinken sie sie weniger alkohol machen sie sport bisschen gemüse und obst dafür weniger fleisch! (nun dass wollen sie dann doch nicht machen stimmts?)

    desweiteren kann ich ihnen kichererbsen empfehlen! kichererbsen besitzen weibliche hormone! die ja genau älter machen!! (wahrscheinlich noch ein grund warum fr älter werden) erst neulich auf arte eine doku gesehen! in italien gibt es ein dorf wo die menschen bes alt werden weil kicherbohnen ein fester bestandteil ihrer nahrung ist. (nicht nur in it. auch in indien und japen)

    also halten sie sich fit übernehmen sie verantwortung für ihre gesundheit und dann wird das schon!

    viel glück dabei

  • F
    Freimut

    Gut, dass die taz-Wissenschaftsredaktion wieder einmal kritisch berichtet. Es wäre schön, wenn auch die Wissenschaftsseite politischer und engagierter würde. Ich meine damit keinen Kampagnenjournalismus - aber es ist doch offensichtlich, dass die veröffentlichte Forschung nur die halbe Wahrheit ist.

  • J
    Jürgen

    Was für eine ehrenvolle Aufgabe für das "Landesgesundheitsamt"!

    Hoffentlich alles nur Mitläufer von CDU und FDP!

  • B
    Bockwurst

    Ohne die Studie lesen zu können (ein Link wäre hier sehr hilfreich) vermute ich diese Studie erhebliche Mängel hat oder der Author des Textes den Inhalt verfälscht wiedergibt. Aber anhand der hier gegebenen Daten: Wie kann es sein, dass es bei abnehmender Geburtenrate in D im Zeitraum von 81-95 nur 13.861 Geburten gegeben hat und es dahingegen im Zeitraum von 96-10 erstaunliche 23.135 Geburten waren. Dieses würde ja eine Steigerung der Geburten von ~67% bedeuten, was nur durch einem extremen Zuzug anderer Personen in dem Bereich erklärt werden kann. Es gibt zwei Sachen die meines Erachtens dieses Verhalten erklären könnten.

     

    - Der Autor der Studie hat den statistisch zu betrachtenden Bereich geändert. Dieses würde den Wert der Studie wahrscheinlich zunichte machen, da es ja um lokale Gegebenheiten geht die geprobt werden.

     

    - Es gab einen enormen Zuzug. Hier wäre natürlich auch die Korrelation zulässig: Umzug -> mehr männliche Geburten. Was auf jeden fall auch interessant wäre (aber nicht ideologisch).

     

    Es wäre schön die Studie verlinkt zu bekommen oder die Daten der anderen Nuklearanlagen zu sehen.

    Ahhh. hab eine Präsentation vom seiner Studie gefunden: http://www.helmholtz-muenchen.de/ibb/homepage/hagen.scherb/index.html

    Es ist für beide Zeitspannen der 40km wert angegeben. Würde sagen da ist auf jeden Fall was komisch. Habt Ihr ne Idee?

     

    Grüzle

  • SB
    Siegfried Bosch

    Wie? Höre ich hier richtig? Mädchen häufiger betroffen!? Aber bisher wurde doch aus der Tatsache, dass Mädchen/Frauen zwei X-Chromosome haben immer geschlossen, dass sie den Männern überlegen sind, weil sie gewisse Krankheiten und Störungen nicht so häufig bekommen. Dass das männliche Geschlecht wegen seines "verkrüppelten Y-Chromosoms" aussterben wird und dass die kürzere männliche Lebenserwartung darin ihren Grund hat (und nicht etwa darin, dass Männer gesellschaftlich benachteiligt werden), stimmt nun also doch nicht, oder?