Geschichtsschreibung in der Ukraine: Den Krieg von unten sehen
Ein Uni-Projekt in Lwiw sammelt Augenzeugenberichte in Russlands Angriffskrieg. Die Aufzeichnungen werden auf einer Plattform zusammengestellt.
Die UKU versammelte eine Gruppe von Freiwilligen aus Lehrern, Arbeitern und Studenten, die damit begannen, die persönlichen Aussagen der Ukrainer*innen zu dokumentieren. Sie suchten in Notunterkünften, Bahnhöfen und Freiwilligenzentren nach Protagonist*innen. „Manchmal riefen Leute: ‚Frag mich nicht, es tut weh, sich zu erinnern‘, sagt die Studentin Natalja Stareprawo. Sie hat sich Dutzender dieser Geschichten angenommen.
Dem Team ist es gelungen, mehr als 100 Geschichten zu filmen, einige wurden in andere europäische Sprachen übersetzt. Das Projektteam arbeitet nicht nur in Lwiw, sondern reiste auch nach Irpin, Butscha, Kyjiw, Charkiw, Saporischschja und Odessa. „Wir konzentrieren uns auf die Mikrogeschichte, dokumentieren den Krieg ‚von unten‘. Anhand der Schicksale gewöhnlicher Menschen und ihrer Reaktionen richten wir unser Augenmerk vor allem auf die menschliche Dimension dieses Krieges“, sagt die Kuratorin des Projektes Elena Dschedschora. „Ihre Geschichten über das Leben im Krieg, ihre Gefühle und täglichen Aktivitäten, die einen kleinen Beitrag zum Sieg leisten, dürfen nicht verloren gehen“, sagt Dschedschora.
Die Erinnerungen müssten aufgezeichnet werden, denn die Taten der Russen deuteten auf einen Völkermord an den Ukrainer*innen hin, sagt Olesja Isajuk, Doktorin der Geschichtswissenschaft. Das Projekt sei eine große Datenbank mit vollständigen Originalinterviews, die eine Plattform für Historiker werden soll. „Darüber hinaus geht es um Dokumente, die dazu beitragen, Europäer*innen zu erreichen, die sich oft Illusionen über den Moskauer Besatzer machen“, erläutert sie.
Vom Theater zur Notunterkunft
Eine Geschichte ist die von Natalia Rybka-Parhomenko. Sie stammt aus Charkiw, lebt jedoch seit 17 Jahren in Lwiw und arbeitet am Theater Les Kurbas. Die Frau berichtet, wie das Theater zwei Tage nach Kriegsbeginn zu einer Militärunterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert und die Schauspieler zu freiwilligen Helfern wurden. Sie sei hin- und hergerissen gewesen zwischen der Hilfe für Geflüchtete in Lwiw und der Sorge um ihre Eltern in Charkiw. Es habe Tage gegeben, an denen sie nur das Wort „Appell“ in den Messenger geschrieben und als Antwort erhalten habe: „Wir leben noch.“
Ein weiterer Protagonist ist Alexander Jabtschanka. Er ist Kinderarzt und zu Kriegsbeginn in den Krieg gezogen. Jetzt setzt er seine Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld ein: Er ist Sanitäter, Freiwilliger, Spendensammler, Luftaufklärer und Infanterist. Oder Iwanka Kripjakewitsch-Dimid: Ehefrau eines Priesters, Mutter von fünf Kindern, Freiwillige und Künstlerin. Ihre Geschichte ist die einer Frau, die ihr Kind im Krieg verloren hat. Ihr Beispiel hilft anderen Müttern, mit dem Schrecken des Verlustes umzugehen. Das Interview wurde am 5. Juli 2022 aufgezeichnet, 17 Tage nach dem Tod ihres Sohnes Artjem an der Front.
Unter den Geschichten sind auch solche, die mit später verstorbenen Menschen aufgezeichnet wurden. Dmitri Paschtschuk meldete sich freiwillig zum Krieg und kämpfte im Spezialeinsatzzentrum. „Der Franzose“ (sein Kampfname) befreite Cherson und glaubte an den Sieg, dachte aber stets an den hohen Preis, den das ukrainische Volk dafür zahlte. „Wir tragen jetzt ein Kreuz und es ist schwer, den Tod der besten Menschen zu akzeptieren. Aber diese Menschen verlassen uns nicht. Sie hinterlassen bedeutende Spuren“, sagte Paschtschuk in seinem Interview. Kurz darauf wurde er von einer Kamikadze-Drohne tödlich getroffen.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül