Geschichte: Reise zurück in die Zukunft

Ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Überlebende aus der Ukraine besuchen Berlin und das Konzentrationslager Ravensbrück. Aber sie wollen auch sehen, wie Deutschland heute aussieht.

Die Melodie klingt melancholisch und wehmütig. Aber auch feierlich. Beruhigend. Würdevoll. Es ist ein ukrainisches Lied, das die Frauen in der Mitte des Busses gemeinsam angestimmt haben. Am Fenster zieht der Norden Brandenburgs vorbei. Es ist später Nachmittag, als der Bus auf dem Vorplatz der Gedenkstätte Ravensbrück hält. 46 ehemalige ZwangsarbeiterInnen, KZ-Überlebende und in Opferverbänden engagierte Ehrenamtliche aus der Ukraine sind angereist, um das ehemalige Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zu besichtigen.

"Ich habe über mehr als 60 Jahre hinweg versucht herauszufinden, was mit meiner Mutter geschehen ist", erzählt Lida Chodirewa, eine Frau mit freundlichen, warmen Augen und weißen Haaren, die auf der Krim Erinnerungs- und Forschungsarbeit leistet. Die 1936 geborene Lida sah ihre Mutter zum letzten Mal 1944 in einem Görlitzer Gefängnis, wohin die Nazis die beiden zwei Jahre zuvor aus der Sowjetunion verschleppt hatten.

Kurz vor ihrem ersten Besuch in Ravensbrück, im Juni dieses Jahres, habe Lida erfahren, dass ihre Mutter am 15. November 1944 ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht und wenig später ermordet worden sei, berichtet Marina Schubarth. Schubarth koordiniert und begleitet den fünftägigen Aufenthalt der 46 Ukrainer in Berlin mit Besuchen der Konzentrationslager Majdanek, Auschwitz, Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück. Eine Fahrt wie diese, von der ukrainischen Regierung zum 20-jährigen Jubiläum der Gründung der Opferverbände finanziert und vom Dokumentartheater Berlin sowie dem Verein Kontakte-Kontakty unterstützt, habe Seltenheitswert. "So viele würden heute gern nach Deutschland kommen, doch meist scheitert es an der Finanzierung", weiß Schubarth.

Denen, die nun nach Berlin gekommen sind, gefällt, was sie sehen. "Was für ein anderes, modernes und inspirierendes Land Deutschland heute ist!", hatte einer der Zeitzeugen tags zuvor bei einer Pressekonferenz gesagt und viel zustimmendes Nicken bei seinen Mitreisenden geerntet. "Aus unserer Vergangenheit gibt es viel zu erzählen. Wichtiger aber ist, dass wir in eine friedliche Zukunft schauen."

Lida Chodirewa ist mit ihrer Suche nach der Vergangenheit noch nicht am Ende. Warum und wie die Deportation ihre Mutter von Görlitz nach Ravensbrück verlief, ist unklar. "Wir werden weiter recherchieren", verspricht Schubarth, die eng mit Chodirewa zusammenarbeitet, um die Lebensgeschichten der NS-Opfer zu erforschen und öffentlich zu machen.

Im ehemaligen Wachhaus des Ravensbrücker Lagers ist heute der "Ort der Namen" untergebracht. 13.161 der mehr als 130.000 hier Ermordeten sind namentlich in einem Buch aufgeführt. "Nina Sawjalowa" ist eine davon. Lida legt rote Nelken auf die Seite mit dem Namen ihrer Mutter. Auf dem freundlichen Gesicht liegt ein tieftrauriger Schatten. Lida hat nicht nur als junges Mädchen ihre Mutter verloren. Heute weiß sie, dass die Leitung des Gefängnisses in Görlitz den Häftlingen etwas ins Essen mischen ließ, damit die Periode der Frauen aussetzte. Deswegen konnte die heute 72-Jährige nie eigene Kinder bekommen. Durch die hereinbrechende Dunkelheit geht die Gruppe weiter zum ehemaligen Lagergefängnis. Heute sind die früheren Zellen Gedenkräume. "Bunker" nannten die Häftlinge den Zellentrakt. Die hierher, in Einzelzellen verlegten Frauen seien anfangs erleichtert gewesen, wenigstens einmal allein sein zu können, erzählt eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Doch die Isolationshaft habe schnell ein Gefühl von Schwäche und Aussichtslosigkeit nach sich gezogen. Darum begannen die Frauen zu singen, gemeinsam. Durch Wände hindurch, sich versichernd, nicht allein zu sein. Eine ungeheure Macht, Würde und Solidarität habe das gemeinsame Singen ausgedrückt, berichten einige Zeitzeugen.

"Wir wollen mit dieser Reise den Verstorbenen die Ehre erweisen", sagt Roman Kubickie, ein würdevoller Herr mit schwarzer Ledermütze und Gehstock, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hat. Still dreht er sich zum ehemaligen Lagergelände hin um und verneigt sich, bevor er als Letzter in den Bus steigt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.