Geschichte der Sowjetunion: Warum Lenin? Warum Stalin?
Orlando Figes bietet in „Hundert Jahre Revolution“ einen Überblick über die Geschichte der Sowjetunion, lässt aber viele Fragen offen.
Hundert Jahre auf dreihundertsechzig Seiten erschöpfend darzustellen, das ist natürlich eine echte Herausforderung. Zumal wenn es sich dabei um eine Rekapitulation der jüngeren Geschichte des größten Flächenstaats der Erde handelt, der während dieser Zeit nicht nur mehrfach seine geopolitische Zusammensetzung geändert, sondern auch eine mehrfache radikale Umwälzung aller politischen Werte mitgemacht hat. In Anbetracht der Tatsache also, dass das alles gar nicht geht, ist Orlando Figes mit seiner Geschichte von der Entstehung, der Entwicklung und der Abwicklung der Sowjetunion ein lesenswertes Buch gelungen, das hilft, sich viele Zusammenhänge noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
Der britische Historiker ist in der lesenden Öffentlichkeit bekannter geworden als andere Kollegen seiner Zunft, weil er wirklich gut schreiben kann. Für Aufsehen sorgte Figes zuletzt vor ein paar Jahren mit seinem Buch „Die Flüsterer“ über das Alltagsleben in der Sowjetunion während der repressiven Perioden des Stalinismus. Dafür hatte er sich jahrelang durch Archivmaterial gearbeitet sowie Interviews mit Zeitzeugen geführt und die Ergebnisse der Recherche zur eindrucksvollen Darstellung einer vielstimmigen Oral History verdichtet.
Die erzählerischen und dramaturgischen Stärken, die den „Flüsterern“ zugutekamen, sind allerdings für eine allgemeinere historische Darstellung wie „Hundert Jahre Revolution“ nicht relevant. Für ein solches Vorhaben muss der Autor die Geschehnisse gleichsam wie durch ein umgedrehtes Fernglas betrachten und sich gleichzeitig der Herausforderung stellen, eine solche komprimierte Darstellung durch eine überzeugende Thesenführung zu adeln.
Dies allerdings ist genau der Punkt, in dem Figes’ Sowjetgeschichte nicht völlig überzeugen kann. Eine interessante Arbeitshypothese stellt er jedoch voran: Er habe sich vorgenommen, „hundert Geschichtsjahre in Form eines einheitlichen revolutionären Zyklus darzustellen“, erklärt der Autor eingangs.
Orlando Figes: „Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert“. Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Rullkötter. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2015, 384 Seiten, 26 Euro.
Ein Wunder, dass die Sowjetunion so lange existierte
„Die Distanz der Rückschau ermöglicht uns, die Revolution aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und abermals die großen Fragen zu stellen: Warum Russland? Warum Lenin? Warum Stalin? Warum scheiterte sie? Und was bedeutete das alles?“
Das alles sind wirklich große Fragen, möchte man nach der Lektüre sagen, auf die aber auch dieses Buch keine originelleren Antworten gibt außer jenen, die durch die bekannten äußeren Fakten gegeben werden.
Warum Lenin? Weil es während des Ersten Weltkriegs im Interesse der deutschen Regierung lag, ihn in seinem verplombten Eisenbahnwaggon quer durchs Deutsche Reich fahren zu lassen, auf dass er Russland von innen destabilisiere. Warum Stalin? Weil er die Umstände von Lenins Krankheit und Tod geschickt machtpolitisch für sich auszunutzen wusste.
So wie Figes die Geschehnisse nacheinander weg erzählt, entsteht alles andere als der Eindruck eines „einheitlichen revolutionären Zyklus“, sondern eher der gegenteilige, nämlich der Eindruck einer chaotischen Abfolge von manchmal beinahe zufällig scheinenden Entwicklungen und erratischen politischen Entscheidungen. Fast möchte man sich wundern, dass die Sowjetunion überhaupt so lange existieren konnte.
Es ist eine im großen Ganzen sehr von oben erzählte Geschichte, die sich auf die Führerfiguren fokussiert und deren jeweilige politische Ideen und Meinungsumschwünge. Das ist als historische Zusammenfassung immerhin durchaus nützlich und wirft ein schrecklich deprimierendes Licht auf ein Riesenland, das so sehr vom Vorhandensein einer starken Führungsfigur abhängig zu sein scheint.
Den eingangs so kühn vorgetragenen Vorsatz, zu erklären, warum die Revolution scheiterte und was „das alles bedeutete“, scheint der Autor am Schluss aber wieder vergessen zu haben. Dennoch ist es auf jeden Fall lehrreich, sich die Brüche und Kontinuitäten in der russischen Geschichte zu vergegenwärtigen, um vielleicht ein kleines bisschen besser zu verstehen, wie es kommen konnte, dass Russland und „der Westen“ heutzutage wieder ein anscheinend unversöhnliches Gegensatzpaar bilden. Russland, das hat Figes immerhin gezeigt, wird jedenfalls noch lange nicht fertig sein mit der Sowjetunion.
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