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„Genossen, verliert euch nicht in Emotionen!“

■ Aus dem Innern des Parteitag-Alltags im Kreml / Zwischen Beruhigungs-Tee-Pausen auf den Fluren und Stör-Sandwiches ganz oben unterm Dach wird viel abgestimmt und entschieden / Militärs auf der Rolltreppe nach unten „konter“

Aus Moskau Barbara Kerneck

Es geht genauso zu wie sonst. Nur eine Stelltafel vor dem Kongreßpalast verkündet, was drinnen stattfindet. Abends sieht man dann die Stelltafel im Fernsehen. Die Lobbies der Kongreßhalle erstrecken sich über vier Etagen: hellbeige Marmorsäulen und purpurrote Teppiche, üppige Palmen. Durch die Glaswände scheinen dottergelbe und ziegelrote Kremlpaläste mit kalkigem Zuckergußstuck, goldene Zwiebeltürme, bronzene Glocken, sattes Gartengrün. Vor dem knallblauen Julihimmel ein psychedelischer Farbentrip. Doch die Deputiertenaugen heften sich auf graue Stelltäfelchen: „Wo tagt die Mandatskommission?“ und „Wem gratuliert das Präsidium zum Geburtstag?“.

In der untersten Wandelhalle werden auskunftfreudige Deputierte von Journalisten belagert, die an diesem Tag einen seltenen Platz im „Kreml-Pool“ ergattert haben. Da steht der Moskauer Parteichef Jurij Prokoffjew und wirkt aus der Nähe wie Heinz Rühmann in der Rolle des braven Soldaten Schwejck. Prokoffjew hat in diesen Tagen einen deutlichen Linksruck vollzogen und wurde ausgebuht. „Stimmt es, daß die größte Gefahr von rechts droht?“ fragt eine US-amerikanische Kollegin. „Genau von dort“, sagt Prokoffjew und die Kollegin nickt dankbar für die tiefe Erkenntnis.

Die konservative Kongreßmehrheit hat am Montag Generalsekretär Gorbatschow erstmals murrend unterbrochen. Rechte Aktivitäten enthüllte dortselbst der Vater der „Perestroika“, Alexander Jakowlew, gegen den in den Gängen verleumderische Flugblätter verteilt wurden. Eine Untersuchungskommission wurde zur Untersuchung des Falles eingesetzt.

Jetzt, am Nachmittag, geht es wieder geschäftsmäßig zu. Bei Debattenbeginn werden die Rolltreppen mit Samtwürsten abgesperrt und Putzfrauen verteilen mit altmodischen Rutenbesen den Kongreßstaub um. Anatolij Lukjanow, sonst Vorsitzender des Obersten Sowjets, leitet auch hier die Diskussion mit eiserner Konsequenz und blankem Zynismus. „Jetzt nehmen wir alle das Papier in die Hand und schauen auf Paragraph acht“, dirigiert Lukjanow und bezieht sich auf den Partei-Statut-Entwurf, der inzwischen fast so viele Korrekturen aufweist wie ein taz-Manuskript. „Genossen, verliert Euch nicht in Emotionen, das lohnt sich nicht!“, wiederholt Lukjanow sein Leitmotiv, wenn Unruhe im Saal aufkommt, und wenn ihm ein Änderungsvorschlag nicht paßt, flicht er vor der Abstimmung noch schnell ein: „Ich erinnere daran, daß die entsprechende Arbeitskommission diese Variante bereits verworfen hat“.

Auf diese Weise peitscht Gorbatschow schnell seinen Lieblingsstatutenentwurf durch. Der Generalsekretärsposten heißt auch weiter so, sein Inhaber wird aber einen Stellvertreter zugeordnet bekommen, dem künftig nicht wenig Macht in der Partei zufallen sollte.

Am Dienstagmorgen faßt der bisherige Generalsekretär in einer langen Rede dann nochmals seine Positionen zusammen. Die Wiederwahl des Generalsekretärs ist so gut wie gesichert. Doch neben ihm werden sich eine Reihe von Kandidaten in zehnminütigen Vorträgen vorstellen, darunter Innenminister Bakatin, der ehemalige sibirische Grubendirektor Avaliani, der sich im letzten Sommer zum Fürsprecher der Bergleute machte, und der Armenier Lobow, der bereits für den Posten des Vorsitzenden der russischen KP diskutiert hat. Keiner von ihnen zählt zu den konservativen Hardlinern. Soll aus diesem Kreis auch der zweite Mann gewählt werden, oder sind noch Überraschungskandidaturen möglich? Diese Frage wird am Dienstag die Kommentatoren beschäftigen.

Doch noch ist Montagabend. Auch das Politbüro, so zeigt sich, bleibt Politbüro, nur wird es auf 23 oder 24 Mitglieder verdoppelt, die ersten Sekretäre der 15 Sowjetrepubliken sollen dort automatisch künftig einen Sitz haben. Diese Entscheidung soll offenbar den Abspaltungsbestrebungen in vielen Republikparteien zuvorkommen. Die Forderung, Fraktionen in der Partei zuzulassen, wird formlos beerdigt. Da wird es im Saal noch einmal brenzlig: Jemand schlägt vor, der Parteitag solle in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung auch in den nächsten fünf Jahren zusammentreten, um die gewählten Organe zu kontrollieren. Gorbatschow greift ein: „Genossen, wir würden hier einen krassen Fehler zulassen. Unsere Zeit ist schnellebig. Im Laufe eines Jahres ändern sich die Positionen, werden von neuen Leuten zum Ausdruck gebracht und ändert sich die Kräfteverteilung. Der Genosse Jelzin hat kritisiert, daß fast die Hälfte von uns hier im Saal Funktionäre sind. Wenn wir uns in dieser Zusammensetzung verewigen, können wir noch so gute Entscheidungen treffen, es würde immer ein Schatten auf sie fallen. Schafft keine verlogene Situation!“

Wütende Protestschreie richten sich gegen diesen Einwurf. Und triumphierend lächelt Lukjanow: „Wir sollten unsere Leidenschaften bei einer Tasse Tee beruhigen. Genossen, wir machen jetzt 30 Minuten Pause!“ Die Deputierten ergießen sich auf die Rolltreppen und schweben in das Buffet unterm Dach. Der Raum verströmt den Charme eines modernen Hallenbades: Wellige Reflexe der großen Oberlichter, Chrom und Zellophanpapier. „Ich fände es gar nicht schlecht, wenn wir noch für eine Übergangsfrist die Parteiführung kontrollierten“, erklärt bei einem Stör-Sandwich ein Wasserökologe aus der Ukraine. „Aber viele hier stimmen noch einfach für alles, was das Präsidium befürwortet“, gibt er zu.

Und so ist es: Nach der Pause wird der Vorschlag zur Mandatsverlängerung aller Anwesenden sang- und klanglos abgelehnt. Zwei hochdekorierte Militärs fahren hinter der taz-Korrespondentin die Rolltreppe hinunter. Sind es nun Generäle, Konter-Admiräle? „Konter“ sind sie auf jeden Fall, nämlich gegen all diesen neumodischen Kram in der Partei. „Und wenn sie uns jetzt auch die Köpfe abhacken“, sagt der eine zum anderen: „Die Geschichte wird schon zeigen, wozu das alles führt“.

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