Genitalverstümmelung: Der weiße Zeigefinger
Wie können Mädchen in Deutschland vor Genitalverstümmelung geschützt werden? Versiertes Wissen deutscher Frauenrechtlerinnen, von oben herab doziert, nützt ihnen nichts.
Der erhobene weiße Zeigefinger muss weg, findet Sabine Müller. "Zurückhaltung ist wichtig". Die Ärztin nestelt eine Folie aus ihrer Tasche und legt sie auf den Projektor: Seitenlang stehen dort Beschwerden aufgelistet, die genitalverstümmelte Frauen beim Sex, bei einer Geburt oder schon beim Toilettengang erleiden können. "Wir sollten beschnittene Frauen unterstützen. Aber wir dürfen ihnen nicht von oben herab begegnen."
Am Mittwoch hatte Terre des Femmes mit dem Berliner Familienplanungszentrum "Balance" zum Infoabend geladen. Die Veranstalter wollten sensibilieren für ein Dilemma: Wie helfe ich beschnittenen Frauen in Deutschland - ohne sie als abnorm zu brandmarken? Und wie können sich weiße Frauen engagieren, ohne Migrantinnen zu bevormunden? "Genitalverstümmelung - Menschenrechtsverletzung versus Stigmatisierung von betroffenen Frauen in Deutschland" überschrieben sie das Programm.
Das Thema ist in den Fokus gerückt, seit sich im Dezember schwarze und weiße Frauenrechtlerinnen zu einer Tagung in Berlin versammelten. Sie wollen gegen den Missstand angehen, dass häufig beide Gruppen nebeneinander herwerkeln: die Migrantinnenorganisationen, die Betroffene gut ansprechen können. Und die Organisationen, in denen weiße Frauen versiert Wissen bündeln, Tagungen abhalten - aber kaum Zugang zu gefährdeten Mädchen haben.
Auch am Mittwoch zeigte schon der erste Blick in den Saal, wie selten diese Vernetzung nach wie vor ist: Stuhlkante an Stuhlkante drängten sich dort weiße Ärztinnen, weiße Studentinnen, weiße Rentnerinnen. Verloren in der Menge wirkten da die zwei, drei Afrikanerinnen, die auch den Vorträgen lauschten.
Etwa 19.000 beschnittene Frauen leben in Deutschland, schätzt Terre des Femmes. Hinzu kämen etwa 4.000 Mädchen, die von Beschneidung bedroht sein könnten - etwa wenn sie in den Ferien die afrikanischen Verwandten besuchen. Wie real diese Gefahr ist, lässt sich jedoch nur vermuten. "Die Eltern stellen ja ein Kind, das beschnitten ist, nicht mehr einem Arzt vor", sagt Müller. Laut Lina Ganama, Leiterin von "Al Nadi", einer Beratungsstelle für arabische Frauen in Berlin, sind das Problem weniger die hier lebenden Eltern. Ein Risiko seien eher die Verwandten im Heimatland. Sie berichtet über eine Frau, die verzweifelt ihre Beratungsstelle aufsuchte. Sie hatte mit ihrer Tochter die Familie in Ägypten besucht. Eines Tages hat die Großmutter heimlich, während die Mutter beim Einkaufen war, das Kind beschnitten.
Gerade solche Fälle sind es, die immer wieder Debatten entfachen. Konjunktur haben derzeit Vorschläge, die auf rigide Kontrollen zielen. Das Spektrum reicht vom Ruf nach Pflichtuntersuchungen für Kinder bis hin zur der Forderung, Mädchen gleich nach der Rückreise aus Afrika an den Genitalien zu untersuchen.
Solche Ideen sind nicht nur umstritten, weil sie Eltern - ohne solide Datenbasis - unter Generalverdacht stellen. Es ist auch längst nicht geklärt, ob Druck auf Eltern wirklich das Kindswohl fördert - oder ob er nur zum kreativeren Vertuschen anregt.
Der Tenor allerdings passt in eine weit grundsätzlicheren Debatte, die derzeit in Deutschland geführt wird: Die Frage, wieweit der Staat in den Privatbereich der Familie eingreifen soll. Seit immer mehr Fälle misshandelter Kinder bekannt werden, verschieben sich in der öffentlichen Diskussion die Prioritäten. Galt die Familie lange als Sphäre, in die der Staat möglich wenig hineinzuregieren habe, so werden derzeit die Stimmen lauter, die harsche Kontrollen einfordern.
Dabei wäre laut Edith Bauer schon viel erreicht, wenn die deutsche Mehrheitsgesellschaft wenigstens das täte, was sie auch ohne neue Gesetze erreichen kann: mit Betroffenen sensibel umzugehen. Die Frauenärztin steht am Infotisch, verteilt Blätter mit Grafiken und beklagt einen Missstand: Die deutsche Ärzte wüssten oft weder, wie sie eine beschnittene Frau medizinisch beraten noch wie sie das Thema einfühlsam ansprechen sollen. Zwar hat die Bundesärztekammer 2005 ein Papier verfasst, das Ärzte beim Umgang mit genitalverstümmelten Patientinnen anleitet. Noch aber, kritisiert Bauer, ist das Thema nicht in der Ausbildung der Gynäkologen, Kinderärzte und Hebammen verankert: "Wir stehen am Anfang eines weiten Wegs."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!