Gendiagnostik, Brustkrebs und die Folgen: Eine Frage des Befunds
Nadine Prahl hat das Brustkrebsgen BRCA geerbt und ließ sich die Brüste vorbeugend abnehmen. Nun streitet die Finanzbeamtin um die Kosten.
Mit sich selbst. Mit einem Leben, in dem die Angst vor dem Krebs seit vier Jahren präsent ist, alles wegen BRCA-2, dieses defekten Gens in ihrem Körper.
Hätte.
„Anfangs dachte ich, es ist bloß ein Missverständnis“, sagt Nadine Prahl. Sie sitzt im Wohnzimmer ihres Einfamilienhauses in Dieburg, einer Kleinstadt nahe Darmstadt. Es ist ein Sonntag im September, Nadine Prahl trägt Jeans und T-Shirt. Dieses Jahr ist sie 40 geworden. Das Finanzamt, in dem sie wochentags Vorgänge prüft und Bescheide erteilt, liegt einen Steinwurf entfernt; wenn eine rechnen kann, dann sie, die Beamtin: „Es kann doch nicht sein, dass die mich ernsthaft erst in die Krankheit schicken wollen, bevor sie eine Therapie bezahlen.“
Risiko von 90 Prozent
Auf den Kosten für ihre beidseitige Brust-OP im vergangenen Jahr, 13.000 Euro insgesamt, ist sie zu 60 Prozent sitzen geblieben. Für die Entfernung der Eierstöcke, zu der die Ärzte ebenfalls raten, fehlt ihr das Geld. BRCA-2 heißt das defekte Gen, das Nadine Prahl von ihrer Mutter geerbt hat.
Ihre Ärzte sagen, dass es ihr ein lebenslanges Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, von 90 Prozent eingebracht hat. Bei der US-Schauspielerin Angelina Jolie, die sich wegen BRCA vorsichtshalber beide Brüste abnehmen und später auch die Eierstöcke entfernen ließ, lag das Risiko zu erkranken bei 87 Prozent. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit in der Normalbevölkerung liegt bei 10 Prozent.
Als Faustformel gilt: Frauen mit mutiertem BRCA-Gen, die sich vorbeugend einer Mastektomie unterziehen, also das komplette Brustdrüsengewebe entfernen lassen, senken ihr Erkrankungsrisiko auf unter 2 Prozent. „Das war auch für mich der Grund für die Operation“, sagt Nadine Prahl.
Doch die Beihilfe des Landes Hessen, die zusammen mit der privaten Krankenversicherung die medizinische Versorgung von Landesbeamtinnen erstattet, weigert sich zu zahlen. Weil „allein das Vorhandensein einer bestimmten genetischen Disposition“ noch keine Krankheit darstelle, jedenfalls nicht „im beihilferechtlichen Sinne“. So argumentiert das Regierungspräsidium Kassel, inzwischen in zweiter Instanz im „Verwaltungsstreitverfahren Nadine Prahl gegen das Land Hessen“: „Die Körperfunktion wird durch das Vorhandensein dieses Gens nicht beeinträchtigt“, schreibt das Regierungspräsidium im August 2015 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof.
Weder Beihilfe noch Regierungspräsidium hätten verstanden, worum es hier geht, sagt Nadine Prahl: „Um mein Leben. Und darum, dass die Kosten, es zu retten, sich sogar noch potenzieren werden, sollte ich den Krebs bekommen.“
Mutter und Tante sind betroffen
Was das heißt, kann die Frau erzählen, die die Krankheit durchmachen musste: Roswitha Kubicki, 60 Jahre, Nadine Prahls Mutter. „Ich“, sagt sie im Wohnzimmer in Dieburg, „war 49, als ich den Knoten in meiner rechten Brust entdeckt habe.“
Sie ist zu Besuch an diesem Sonntag; sie will ihre Tochter unterstützen, Öffentlichkeit herzustellen für den zermürbenden Streit um die Kosten für einen Eingriff, dem keine Erkrankung zugrunde liegt, sondern ein Risiko, eine Prognose. Für Krankenversicherungen sind dies ebenso schwer kalkulierbare wie überprüfbare Parameter. In ihrer leistungsrechtlichen Logik kommen sie nicht vor.
„Die Mastektomie stellt grundsätzlich keine medizinisch notwendige Heilbehandlung dar“, teilt der Verband der Privaten Krankenversicherung mit. Falls die Kosten dennoch übernommen würden, „dann ist das eine Kulanzleistung“. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen schreibt, „dass es sich um Einzelfallentscheidungen der einzelnen Krankenkasse handelt“. Das Regierungspräsidium Kassel will derzeit keine Stellungnahme zu dem Fall abgeben.
Als Roswitha Kubicki 2004 an Brustkrebs erkrankte, wussten die Ärzte über ihren Tumor nur, dass er aggressiv war. Er hatte 13 Lymphknoten befallen; beizukommen war ihm mit Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung und fünf Jahren Anti-Hormon-Tabletten. Sowie lebenslänglicher Kontrolle: Alle zwölf Monate muss Roswitha Kubicki zur Kernspintomografie, alle sechs Monate zur Mammografie und alle drei Monate zu weiteren gynäkologischen Untersuchungen. „Es hört nicht auf“, sagt sie.
Man weiß heute viel mehr
Und schon gar nicht hörte es auf, als Jahre später, 2010, ihre Frauenärztin hellhörig wurde; das Verstehen von Krebs hatte zuvor gewaltige Fortschritte gemacht. Roswitha Kubicki: Brustkrebs mit 49. Ihre ein Jahr jüngere Schwester: Brustkrebs, ebenfalls mit 49. Ihre Mutter: verstorben an Eierstockkrebs – mit 68. Und dann waren da Roswitha Kubickis Töchter, Nadine Prahl und ihre 11 Jahre jüngere Schwester, ohne Befund, bislang.
„Wir haben dann beraten, ob wir uns auf BRCA testen lassen“, sagt Nadine Prahl. „Es ist wichtig, sich vorher zu überlegen, wie man mit dem Ergebnis umgehen wird und was daraus folgt.“ Erst mit den modernen, präzisen Vorhersagemöglichkeiten der genetischen Diagnostik sind vorbeugende Operationen überhaupt als Therapie-Option ins Bewusstsein von Patientinnen und Ärzten gerückt. Die klassische Definition von Krankheit, wonach ein krankhafter Befund vorliegen muss, um einen Eingriff zu rechtfertigen, gerät ins Wanken. Sozialpolitiker wie Krankenkassenchefs scheuen eine begriffliche Anpassung auch deswegen, weil die heikle Frage, die über allem steht, unabsehbare Folgen für das Leistungsrecht hätte: Wollen wir künftig statt Krankheiten Risiken behandeln?
Im Spätherbst 2011 ergeben die Gentests: Alle drei Frauen tragen das Brustkrebsgen. Roswitha Kubicki lässt sich ihre gesunde linke Brust und die Eierstöcke entfernen. Weil sie bereits Brustkrebs hatte, trägt ihre gesetzliche Krankenkasse die Kosten. Ihre jüngere Tochter, heute 29, beschließt, schwanger zu werden und die Operationen auf später zu verschieben. Nadine Prahl bittet Kliniken um Kostenvoranschläge. Bei ihrer privaten Krankenversicherung und der Beihilfestelle beantragt sie Erstattung. „Ich habe Verantwortung für zwei Kinder. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich abwarte, bis ich krank werde.“
Sobald Frauen in Deutschland positiv auf BRCA getestet werden, wird ihnen eine engmaschige Kontrolle in Brustkrebszentren empfohlen. Alle paar Monate fuhr Nadine Prahl ab Ende 2011 deswegen nach Heidelberg. Gesunde und Kranke teilten ein Wartezimmer. „Da waren diese vielen jungen Frauen, von der Krankheit gezeichnet, und draußen auf der Wiese standen ihre Männer, kleine Kinder an der Hand, und pflückten Blumen.“ Sie weint.
Ein Etappensieg
Im Oktober 2014, mitten im laufenden Rechtsstreit mit der Beihilfe, lässt sie sich beide Brüste abnehmen und mit Silikon rekonstruieren: „Ich konnte nicht mehr. Ich wollte diese ständige Angst nicht mehr, dass die Ärzte bei der nächsten Untersuchung vielleicht doch etwas finden.“ Ihre private Krankenkasse zahlt 40 Prozent, die Beihilfe nichts.
Im Mai 2015 dann die Erleichterung. Das Verwaltungsgericht Darmstadt urteilt: „Das beklagte Land wird verpflichtet, die im Rahmen der durchgeführten prophylaktischen Brustoperation entstandenen Kosten als beihilfefähig anzuerkennen.“ Zwar könne Nadine Prahl ihren Anspruch „nicht auf die Vorschriften der Hessischen Beihilfenverordnung stützen“, erklärt das Gericht. Die Erstattung gebiete jedoch „die verfassungsrechtliche Fürsorgepflicht“ ihres Arbeitgebers: „Bedeutsam ist (…), dass (…) eine Beamtin, der Fürsorge zu gewähren der Dienstherr (…) verpflichtet ist, vor der Entscheidung steht, ob sie dem (…) Ausbruch der Krebserkrankung tatenlos entgegenblickt oder aber sich für eine Operation entscheidet.“
Es ist ein Etappensieg. Im Sommer 2015 geht das Regierungspräsidium Kassel in Berufung. Von der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, vielleicht bald, hängt nicht nur ab, wie schnell Nadine Prahl es sich wird leisten können, auch die Eierstöcke operieren zu lassen. Es geht auch um die grundsätzliche Klärung, welchen Rechtsanspruch Frauen haben sollen, die mit einem genetisch bedingten Brustkrebsrisiko leben. Experten gehen davon aus, dass 5 bis 10 Prozent der jährlichen rund 70.000 Brustkrebserkrankungen in Deutschland auf eine familiäre Veranlagung zurückgehen. Was, wenn sie alle operiert werden wollen?
Das BRCA-Netzwerk in Königswinter registriert zunehmend Fälle von Frauen, die wegen der Mastektomie mit ihren Versicherungen streiten. Kürzlich versagten gesetzliche Krankenkassen die Operationskosten sogar zwei Frauen, bei denen der Krebs bereits diagnostiziert war. Einer anderen Patientin wurde die Rekonstruktion der Brustwarze nicht finanziert mit der Begründung, dies sei Kosmetik. Eine weitere Krebskranke bekam erst nach zähem Ringen die Operation finanziert, obwohl diese – wegen vorheriger Bestrahlung – auch medizinisch begründet war. Eine Versicherte aus Bayern musste ihrer Beihilfestelle ein amtsärztliches Zeugnis beibringen, um „eine Einzelfallentscheidung ohne Bindung einer Rechtspflicht“ herbeizuführen.
Nadine Prahl sagt: „Man darf das nicht persönlich nehmen. Sonst wird man wirklich krank.“
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