piwik no script img

Gender-Theater in HannoverHeld*in des Amalgamierens

Alle starren Kategorisierungen im Geschlechterspiel mit Leichtigkeit unterlaufen: Corinna Harfouch gibt eine*n liebevoll-sarkastischen „Orlando“.

Spielerisch voll in der Erzählung – und ihr spottselig überlegen: Corinna Harfouch als Orlando Foto: Kerstin Schomburg

Hannover taz | Orlando steht im Zentrum der Debatten um biologisches, soziales und empfundenes Geschlecht, wirft bekannte Rollenmodelle über den Haufen, will das menschengemachte Konzept von Mann und Frau, hetero und homo neu verhandeln. Heute werden sexuelle Ausrichtungen kunterbunt ausdifferenziert, ihre Grenzen verwischt, sodass auch die Regenbogenflagge der LGBTI*-Bewegten nicht mehr zeitgemäß wirkt, da sie die Farben der Vielfalt allzu strikt trennt. Orlando ist dagegen ein Held des Amalgamierens. 1928 von Virginia Woolf als Abenteurer erdacht, antizipiert er den heute diskutierten fluiden Gender-Charakter.

Darauf stürzen sich Corinna Harfouch und Oscar Olivio mit großer Spielfreude am Schauspiel Hannover. Beide erscheinen ohne androgyne Attitüde geradezu spiegelbildlich in gleicher Maske und angedeutet historisierenden Kostümen. So könnten sie sich kreuz und quer durch die karikierten Geschlechterklischees der Entwicklungsgeschichte fabulieren, die in England des 16. Jahrhunderts startet, in Konstantinopel Playboy-wüst herumtobt und erst in den 1920er-Jahren zur Ruhe kommt.

Das Darstellerduo könnte ständig die Rollen wechseln und so Werte des Männlichen und Weiblichen verdeutlichen. Wobei solche Zuschreibungen schon bei Woolf gesellschaftlichen Vorgaben folgen, nicht essenziell sind oder gar ontologisch begründet. Einmal legt Olivio auch die Hände auf die Schultern der Partnerin wie zur Übertragung der Identitätsdaten der gerade gespielten Figur. Andersherum passiert dies nicht.

Star-Theater

Schnell wird klar: „Orlando“ in Hannover ist Star-Theater. Harfouch stemmt den Text fast allein, Olivio bleibt meist nur die Rolle des Sidekicks, um Liebhaber, Liebhaberinnen oder Fantasievögel als Stichwortgeber und Anspielpartner zu geben. Als Diener seiner Herrin übernimmt er zudem Bühnenumbauarbeiten, sorgt für Lichtwechsel, schmeißt auch Nebel- und Windmaschinen an.

Mehr ist an Lily Sykes' Regie nicht zu kritisieren. Sie verlässt sich auf Harfouch – und die agiert beeindruckend souverän, alle starren Kategorisierungen im Geschlechterspiel mit freiheitsdurstiger Leichtigkeit zu unterlaufen. Ruckartig sind ihre Bewegungen noch zu Beginn, überbetont all ihre Gesten. Orlando startet als Marionette, noch fremdbestimmt von gesellschaftlichen Konventionen. Elizabeth I. liebt diesen knabenhaften Vorzeige-Edelmann, der allerdings in eine schlittschuhlaufende russische Prinzessin verliebt ist.

Ich bin allein. Das ist Orlandos erster Satz als Mann und auch sein letzter als Frau

Für Orlandos folgende Reise durch die Kulturgeschichte Europas werden Harfouchs Bewegungen weicher, eleganter, viriler. Wie selbstverständlich integriert sie auch das plötzliche Erwachen als Frau. Denn Orlando erfährt sich nur äußerlich neu designt, innerlich als dieselbe Person. Auf der Bühne versinnbildlichen Harfouch und Olivio das, indem sie in einem riesigen Reifrockskelett stecken, ihn wegschleudern und sich küssen. Übermütig. Ein Akt der Befreiung.

Aber Orlando wird nicht weise, eher älter und kälter – und sagt: „Ich bin erwachsen. Ich verliere alle meine Illusionen, um neue zu gewinnen.“ Selbstbewusst ist die Haltung. Aber einsam die Situation: „Ich bin allein.“ Das ist Orlandos erster Satz als Mann und auch sein letzter als Frau – angekommen, in der Zukunft, zu früh zu modern dahingegossen in Gender Fluidity. Den steten Wechsel von männlichen, weiblichen und geschlechtsneutralen Empfindungen in einem Körper als neutralen Raum feiernd.

Sarkastisch zugespitzt

Das alles ist so liebe- wie humorvoll entwickelt und immer wieder erfrischend sarkastisch zugespitzt, dass Zuschauer jedweder Gender-Vorbildung an den Diskurs andocken können. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur erklärt Harfouch ihre Rollengestaltung als Sinnbild der Inszenierung: „Jeder hat einen Mann und eine Frau in sich. Das bezieht sich nicht auf das primär Geschlechtliche, sondern auf Denkweisen und Verhaltensmuster, je nachdem, wie man aufgewachsen ist und was einem beigebracht wurde. Ich durfte öfter schon einen Mann spielen und dieses Männliche hervorholen, sodass ich es spürte und erlebte … Wenn die Welt mehr spielen und das Spielen als eine ernste Sache begreifen würde, dann wüsste das jeder.“

Orlando

Sa, 2. 11., 19.30 Uhr, Hannover, Schauspielhaus. Nächste Termine: 15. 11., 7. 12.

Für Freunde der Sprechkunst ist der Abend ein Genuss. Harfouch nimmt den ironischen, ja süffisanten Tonfall der märchenhaften Pseudo-Biografie auf, ist spielerisch in die Erzählung verwoben und ihr spottselig überlegen. Wobei der Formulierungszauber und das Gedankenfunkeln des magisch-poetischen Realismus der Autorin ganz in der Sprache bleiben. Sykes bringt sie zur Wirkung, nicht die Theatermaschinerie.

Irritierend nur der Programmheftbeitrag von Intendantin und Dramaturgin. Obwohl Orlando ja gerade nicht aus all den disparaten Gender-Potenzialen etwas Einheitliches machen, sondern das Changierende leben will, manifestiert Anders die Gegensätze und behauptet, es gebe männliches versus weibliches Schreiben und Woolf stehe für die feminine Position. Was das bedeutet?

Die Unmöglichkeit der Beschreibung von Welt und Wahrnehmung definiere den weiblichen Stil, „der durch reflexive Momente, fantastische Bilder, unkonventionelle Brüche geprägt ist“, von „Vielschichtigkeit, Zersplitterung, Überraschung und Überlagerung“. Muss ­Schreiben derart als weiblich definiert werden, obwohl es genügend männliche Autoren gibt, auf deren Literatur diese Zuschreibungen ebenfalls passen? Obwohl die „Orlando“-Performance über solches Verstehen-, Erklären-, Einordnenwollen in Gendertermini längst hinaus ist? Ein Rätsel?

Die Inszenierung immerhin ist eindeutig der erste Triumph fürs neu aufgestellte Schauspiel Hannover.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!