Gemeinsam leben im Alter: SeniorIn, nicht dement, sucht WG
Irene Westphalen und Peter Rowher leben Tür an Tür – in einer SeniorInnen-Wohngemeinschaft in Hamburg-Altona. Vier Jahre haben sie gesucht, bis sie eine geeignete Wohnung gefunden hatten.
HAMBURG taz | „Da – Spinat“, sagt Peter Rowher, 72, und zeigt auf die noch freien Kästchen in einem Kreuzworträtsel. Irene Westphalen, 83, schreibt die Buchstaben hinein. Die beiden sitzen oft zusammen. „Unsere Zimmer sind durch eine Flügeltür verbunden – so können wir uns besuchen“, sagt sie. „Oder die Tür zumachen, wenn wir uns nicht sehen wollen“, sagt Rowher.
Westphalen und Rowher leben in einer Wohngemeinschaft in Hamburg-Altona, doch bis sie und drei andere pflegebedürftige SeniorInnen zusammenziehen konnten, hat es vier Jahre gedauert. Die meisten Wohn-Pflege-WGs sind für Menschen mit Demenz vorgesehen – Peter Rowher und Irene Westphalen sind aber nicht dement. So kamen viele Wohngruppen für sie nicht in Frage.
Peter Rowhers graues Haar ist dünn, er hat tiefe Lachfalten um Mund und Augen. „Wenn man mit mehreren Leuten zusammen ist …“, er hält plötzlich inne. „Herr Rowher hatte einen Schlaganfall, deswegen hat er Sprachschwierigkeiten“, sagt Irene Westphalen und blickt ihn über ihre Brille an. „… unterhält man sich viel und sitzt nicht allein zu Hause“, beendet Rowher den Satz.
Ein Pflegeheim „mit 40, 50 Menschen im Essraum“ findet Irene Wesphalen „furchtbar“. In einer WG dagegen nehme man noch am Leben teil: „Oben wohnt eine Familie, unter uns ist ein Büro und darunter ein kleines Geschäft.“
Klaus Schäfer, Vizepräsident der Hamburger Ärztekammer, sieht die Einrichtung von Wohn-Pflege-WGs ebenfalls positiv. Der Kontakt zu anderen Menschen sei für SeniorInnen enorm wichtig und in einer WG gäbe es viele Beschäftigungsmöglichkeiten, beispielsweise im Haushalt. „Die SeniorInnen können Dinge tun, die sie früher auch gemacht haben. Das ist dann eine funktionale Form der Ergotherapie. So bleiben sie auch fitter im Kopf“, sagt Schäfer.
Wohngruppen sind für Menschen gedacht, die nicht mehr selbstständig ihr Leben meistern können, aber keine stationäre Pflege brauchen.
Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz sollen Wohngruppen von 2013 an besser gefördert werden.
200 Euro zusätzlich gibt es künftig pro BewohnerIn, um eine Präsenzkraft zu finanzieren, die im Alltag unterstützt.
Außerdem können 2.500 Euro pro PflegebedürftigeN für alters- oder behindertengerechte Umbauten ausgezahlt werden.
Die meisten Wohngruppen sind für Menschen mit Demenz vorgesehen, die die Hälfte der insgesamt 2,4 Millionen Pflegebedürftigen stellen.
So ist auch für Westphalen und Rowher die tägliche Hausarbeit nicht einfach nur eine lästige Pflicht. „Wenn man mal nicht gut drauf ist, ist immer jemand da, der einen wieder hochzieht und sagt ’komm jetzt helf’ mal mit Wäsche machen oder einen Tomatensalat‘“, sagt Irene Westphalen und nickt. Die Hausarbeit macht ihr Spaß, sie hat früher in privaten Haushalten gearbeitet. In einer WG hat sie vorher allerdings nie gewohnt.
Eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft zu gründen, ist kompliziert: die Bedingungen regelt das Wohn- und Betreuungsqualitätsgesetz – und das ist in jedem Bundesland unterschiedlich. So werden Wohn-Pflege-WGs selten von Angehörigen der Pflegebedürftigen gegründet, sondern oft von Pflege- und Betreuungsdiensten, Wohlfahrtsverbänden oder Initiatoren aus der Wohnungswirtschaft.
Die Pflege-WG von Westphalen und Rowher bekommt Unterstützung von der Sozialpädagogin und Case-Managerin Karin Hillengaß. Sie haben sich über einen Pflegedienst kennengelernt. Die 57-Jährige half ihnen bei der Wohnungssuche und richtete in den vier Jahren der Suche ein wöchentliches Treffen aus.
Hillengaß unterstützt die WG bei Behördengängen, Arztbesuchen oder beim Einkaufen. Und sie übernimmt die Organisation, leitet WG-Sitzungen und führt Haushaltsbuch. Doch: „Die SeniorInnen sollen leben, wie sie das möchten: Sie bestimmen, wer mit einzieht, und welcher Pflegedienst kommt und wann der kommt. Und auch, wann sie ins Bett gehen, und ob sie abends noch einen Eierlikörchen trinken oder nicht“, sagt Hillengaß.
In der WG hat jeder seine Aufgaben. Peter Rohwer holt täglich die Post und steckt sie in die mit Namen versehenen Filz-Briefkästen, die neben jeder Zimmertür angebracht sind. Streit gebe es selten, man könne sich ja immer in sein Zimmer zurückziehen. „Und wenn einer schnarcht, dann geh ich hin und klopfe“, sagt Rohwer. „Das hörst du doch gar nicht ohne dein Hörgerät“, sagt Hillengaß. „Vielleicht ist das Hörgerät ja nur Tarnung“, antwortet Rohwer.
Dass es trotz der Unterstützung so lange gedauert hat, bis sie eine Wohnung für ihre WG fanden, liegt auch an den Hamburger Mietpreisen: mehr als 400 bis 500 Euro für die Zimmermiete können die SeniorInnen nicht aufbringen. Und ein Umzug in die Vorstadt kam nicht in Frage: „Ich wohne seit 60 Jahren hier, ich möchte hier nicht weg“, sagt Irene Westphalen über den Hamburger Stadtteil Altona. In einer neuen Umgebung würde sie sich nicht mehr zurecht finden, sagt sie: „Hier fühlen wir uns wohl, du auch, nech?“, sie blickt zu ihrem Mitbewohner. „Joa, muss ich ja“, sagt Rohwer.
Karin Hillengaß sagt, sie habe sich etliche Immobilien angeguckt und immer die gleiche Absage zu hören bekommen: „Eine SeniorInnen-WG wollen wir nicht.“ Sie glaubt, dass die Vermieter nicht genügend informiert sind. Vielleicht hätten sie auch Angst, mit dem Alter konfrontiert zu werden. Ein weiteres Problem sei: „Die VermieterInnen können beinahe so viel Miete nehmen, wie sie wollen. Da muss man sich nicht auf eine WG einlassen“, sagt Hillengaß.
Erst vor wenigen Wochen haben sie ihre Wohnung in einem denkmalgeschützten Haus bezogen. Ursprünglich waren sie sieben, die zusammenziehen wollten. Doch vier Jahre sind eine lange Zeit: zwei glaubten schließlich nicht mehr an den Traum von einer selbst organisierten Wohngemeinschaft und zogen woanders ein.
Irene Westphalen ist froh, dass sie sich nicht damit beschäftigen muss, was aus ihr wird, wenn sie nicht mehr alleine leben kann. „Die Angst ist im Alter da“, sagt sie. Sie wollte regeln, wie und wo sie ihren Lebensabend verbringt, bevor sie es nicht mehr selber kann. In der WG will sie bleiben. „Bis zum letzten auf Wiedersehen.“
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