Gemeindearbeit in der Ukraine: „Kiew hat mich weiser gemacht“

Ralf Haska, deutscher evangelischer Pastor, hat fünf Jahre lang in Kiew gelebt und gearbeitet. Eine schöne, aber auch stürmische Zeit.

Ein Kreuz aus Kerzen, ein orthodoxer Priester beim Gedenken an die Toten vom Maidan im November 2014

Ralf Haska im Dezember 2013. Er versucht Platz zwischen Demonstranten und Polizei auf dem Maidan zu schaffen. Foto: dpa

taz: Herr Haska, haben die fünf Jahre, die Sie in der Ukraine verbracht haben, Sie klüger gemacht?

Ralf Haska: (lacht) Ja natürlich! Der Mensch lernt jeden Tag Neues dazu, lernt neue Menschen kennen. Und das war hier in Kiew eine tolle Sache, einfach Menschen zu hören, die ganz andere Lebensgeschichten und ganz andere Schicksale zu bewältigen haben als wir in Deutschland. Und das macht klüger, das bereichert das eigene Leben! Fünf Jahre in einem fremden Land machen einfach weiser.

Ist Ihnen die Ukraine immer noch fremd?

Ganz im Gegenteil, sie ist mir inzwischen zu einem Zuhause geworden! Auch unsere Kinder empfinden das so. Wenn es nach ihnen ginge, würden wir hier nicht wegziehen.

Und trotzdem verlassen Sie Kiew im August. Freiwillig?

Nein, ich muss. Eine Verlängerung war leider aus innerkirchlichen Gründen nicht möglich.

Der Maidan ereignete sich quasi vor Ihrer Kirche. Welches Erlebnis war für Sie das prägendste? Als Sie ein Gummigeschoss eines Scharfschützen abbekommen haben?

Nein, das nicht. Der tanzende Maidan ganz am Anfang. Das war wundervoll, als junge Leute ihre Demonstration „tanzten“. Dieses Fröhliche, Singende und Tanzende war die eine Seite. Die andere waren die Schreie von der Hauptbühne des Maidans am 20. Februar vergangenen Jahres. Da schallte es aus den Mikrofonanlagen: „Sie schießen, sie schießen auf uns! Vorsicht, Scharfschützen!“ Es war dieser Kontrast, der sich mir eingeprägt hat – zwischen dem unbekümmert Fröhlichen und dem unfassbar Schrecklichen.

Ralf Haska, 48, stammt aus Brandenburg und hat in Naumburg und Berlin Theologie studiert. Er ist Pfarrer der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde St. Katharina unweit des Unabhängigkeitsplatzes (Maidan) in Kiew. Während der Revolution 2013-2014 stand seine Kirche Demonstranten, Verletzten, aber auch Soldaten und Polizisten offen.

Wie haben die Geschehnisse auf dem Maidan das Land verändert?

Wirtschaftlich gesehen hat sich die Lage eher verschlechtert, zumindest für die meisten. Die größten Probleme sind Korruption, massive Inflation, enorme Preissteigerungen bei Kommunalgebühren und Medikamenten. Neu ist allerdings das Gefühl des Stolzes vor allem bei der jungen Generation: Wir haben es geschafft, aus der Lethargie aufzuwachen und unsere Forderungen durchzusetzen. Die totale Resignation, die sich vor dem Maidan breitgemacht hatte, ist einer neuen Hoffnung gewichen. Die Regierung weiß sehr wohl, dass sie für die auf dem Maidan eingeforderten Reformen nicht ewig Zeit hat.

Würden Sie Ukrainer als gläubig bezeichnen?

Laut einer Umfrage vor zwei Jahren haben sich 85 Prozent der Ukrainer als religiös, also einer Kirche zugehörig bezeichnet. Unabhängig von den Statistiken spürt man hier bei den Menschen, dass sie sehr wohl auf der Suche nach Gott sind, und versuchen nach Gottes Wort und Gottes Geboten zu leben. Ich erlebe es tagtäglich selbst: Die Menschen kommen an der Kirche vorbei, kommen hinein, stellen sich vor den Altar, beten, knien sich hin. Es ist eine andere, eine tiefe Frömmigkeit bei sehr vielen Ukrainern da.

Welche Rolle spielt Ihre Gemeinde in der ukrainischen Gesellschaft?

Unsere deutsche evangelische Gemeinde in der Ukraine zählt knapp 1.500 Mitglieder. Sie wird von der Bevölkerung also kaum wahrgenommen. Aber da, wo wir unsere alten Kirchbauten haben, in Odessa etwa oder hier in Kiew, also im Stadtbild präsent sind, interessieren sich die Menschen für uns. Es ist große Offenheit und Neugierde da.

Was bieten Sie den Menschen jenseits von Gottesdiensten?

Die Leute wissen mittlerweile, dass Sankt Katharina gerade für Kammermusik ein guter Anlaufpunkt ist. Wir haben ein schönes Gebäude mitten in Kiew und versuchen mit Konzerten, Lesungen und Ausstellungen das christliche kulturelle Leben hier zu bereichern.

Kirchentage unter evangelischen ChristInnen heißt: Ernst zu nehmen, was dort verhandelt, erörtert, begrübelt und was direkt zur Sprache gebracht wird.

Die taz war immer so frei, gerade das an Kirchentagen aufzuspießen, was allzu wohlgefällig im „Allen wohl und niemand weh” unterzugehen droht. Streit nämlich, echte Kontroverse und das Vermögen, scharf Stellung zu beziehen.

Deshalb begleiten wir den Kirchentag auch: in Stuttgart vor Ort und mit vier täglichen Sonderseiten in der Zeitung. Zum ersten Mal schickt die taz Panter Stiftung dafür junge Journalisten nach Stuttgart, die die Berichterstattung übernehmen. Die elf ReporterInnen sind weit angereist, aus Mainz, Berlin oder Hamburg etwa. Es berichten: drei Katholiken, zwei Protestanten, eine Muslima und fünf Atheisten.

Die ukrainische Kirchenlandschaft ist bunt. Wie gestaltet sich der interreligiöse Dialog?

Ich staune über die große ökumenische Gemeinschaft hier in der Ukraine, das feste ökumenische Band zwischen den vielen Kirchen. Es ist wunderbar zu erleben, dass man als winzig kleine Kirche im allukrainischen Bund der Kirchen und Religionen als gleichberechtigtes Mitglied ernst genommen und anerkannt wird.

Die ukrainische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats wird von vielen angesichts der aggressiven russischen Politik als Handlanger des Kremls kritisiert. Gewinnt die Idee einer einheitlichen, also von Moskau unabhängigen, Kirche in der Ukraine an Popularität?

Ja, die Option einer Vereinigung zwischen den beiden großen orthodoxen Kirchen – der des Moskauer und der des Kiewer Patriarchats – wird immer wieder diskutiert, so auch im Moment. Aber ich glaube nicht, dass eine vordringliche Hauptaufgabe der Kirchen darin besteht, diese Einheit auf Biegen und Brechen herzustellen.

Sie leben als Deutscher in Kiew. Nehmen Sie die steigende Frustration gegenüber der EU wegen deren mangelnden Unterstützung wahr?

Ein Stück Ernüchterung ist schon da, das stimmt. Man verbindet die rapide Verschlechterung des Lebensstandards mit den harten Auflagen der EU. Dazu kommt die Enttäuschung der Jugendlichen, die zwar nach Europa schauen, aber immer noch nicht frei hinreisen dürfen.

Der Westen ist stets bemüht, die Ukrainer zu belehren. Gibt es denn nichts, was wir bei ihnen abgucken können? Was haben Sie persönlich von den Ukrainern gelernt?

Ein Stück weit Gelassenheit in Bezug auf Planungen. Den Mut zum Aufbegehren. Die Standhaftigkeit in dem Bestreben, sich durchzusetzen. Aber vor allem die Bereitschaft zur Unterstützung an allen Ecken und Enden. Es gibt ja kaum ein soziales Netz, man ist darauf angewiesen, sich gegenseitig zu unterstützen. Und gerade in diesen schweren Zeiten, wo auch noch die Armee auf Hilfe angewiesen ist, geben viele das, was sie gerade geben können und manchmal sogar mehr. Vor allem geben sie ihre freie Zeit. So viele freiwillige Helfer habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen! Es gleicht für mich einem Wunder, dass Menschen, obwohl sie selbst in einer schweren Situation sind, immer noch bereit sind, den anderen die helfende Hand zu reichen. Dafür bewundere ich die Ukrainer wirklich!

Wenn Sie irgendwann mal ein Buch über die letzten fünf Jahre ihres Lebens schreiben würden, wie würde es heißen?

Das überlasse ich meiner Frau. Das kann sie viel besser als ich. Sie hat ihre Erlebnisse als Pfarrersfrau in Kiew aufgeschrieben. Das Buch ist im Dezember in Deutschland erschienen und heißt „Nachts zittert das Haus“. Es handelt von Begegnungen mit einfachen Leuten während der Revolution auf dem Maidan. Da kommen ganz verschiedene Menschen zu Wort – Deutsche, Ukrainer, Russen. Diese Alltagsgeschichten finde ich sehr spannend.

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