■ Gelesen: Wiedergekäut von links nach rechts
In Deutschland stehe der Geist links, wurde jahrelang von intellektuellen Kreisen geklagt. Inzwischen hat der Herr Geist sich auch rechts ein paar Infrastrukturen geschaffen. Nur mit den Inhalten scheint's noch zu hapern. Das gilt beispielsweise auch für Rolf Peter Sieferles Buch: „Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“, das jetzt im Propyläen-Verlag, der sich schon öfter einen Namen mit rechtslastigen Veröffentlichungen gemacht hat, erschienen ist. „Politische oder ideologische Ziele werden hier nicht verfolgt“, heißt es im Vorwort. Ein „neutraler Beobachter“ möchte der Autor, seines Zeichens Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim, sein. Bei soviel lammfrommer Kreide klingeln bei mir erst mal die Alarmsysteme – aber keine Bange, zum intellektuellen Wolf hat Sieferle keineswegs das Format. Im Gegenteil: Epochenwechsel ist ein auf Akademiker als Zielgruppe hin geschriebenes Exerzitium in bloßen, begrifflichen Drohgebärden. Die Denkfiguren dahinter sind von links und rechts schon tausendfach wiedergekäut: Man siedle den „neutralen“ Beobachtungspunkt so weit oben an, daß alles, was auf der Welt kreucht und fleucht, auf das Millimeterpapier von Begriffen und begrifflichen Antagonismen paßt: Sozialstaat und Nationalstaat, Behemoth und Leviathan, Totalitarismus und Demokratie, Umweltplanung und Ökodiktatur. Alle konkreten Probleme sind bei Sieferle nur Ableitungen. Früher hieß das einmal „Nebenwidersprüche“. Denkfiguren also, die so taufrisch sind wie der Palast der Republik. Wenn einer von so weit oben hingucken muß, dann kommt bei mir der Verdacht auf, daß er ganz unten sitzt. Auf der Karriereleiter etwa? Sieferles betont „vorurteilslose“ und „tabubrechende“ Pose nach Gutsherrenart zielt jedenfalls allzu deutlich auf das rechte Ticket nach oben. Das hat einen politischen Kontext: Mit dem „Brechen“ von sehr bestimmten Tabus reiht sich Sieferle füglich in eine Strömung ein, in der seit einiger Zeit ausgetestet wird, was so alles (wieder) möglich und machbar ist in diesem Land. Mehr als das Buch zum „Berliner Appell“ liefert Sieferle nicht ab. Ein KZ ist für ihn ein „praktisch rechtsfreier Raum“, dem „Naturzustand näher als einer staatlichen Herrschaftsordnung“, der Nationalsozialismus als „Ur- Erlebnis“ des Totalitarismus „weitgehend imaginär“; der Paragraph 16 (Asyl) im alten Grundgesetz ein „bizarrer Artikel“, Prostitution ein Verbrechen, die Forderung, daß Menschenrechte für alle zu gelten haben, schwarmgeistige Phantasmagorie. Frauen gehören für den Professor zu den üblichen Minderheiten – man kennt diesen ganzen zeitgeistigen Katalog, der einen Klimaumschwung in dieser Republik anzeigt und sonst gar nichts. Wo „Argumentationen“ derart mit Sub-Diskutablem vollgesogen sind, ist Diskussion nicht möglich. Das ist weder neu noch originär rechts – Antidemokraten aller Couleur fürchten Diskussionen. Sie wollen nur ins Gerede kommen. Für einen Rezensenten, der dialogisieren will, ein frustrierendes Verfahren, denn wer mag sich schon als Multiplikator neuer Karrierestrategien funktionalisieren lassen. Leser übrigens auch nicht.Thomas Wörtche
Rolf Peter Sieferle:„Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“. Berlin: Propyläen Verlag 1994; 365 Seiten, 58 DM
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