: Gelackte Lebensqualität
■ Berufung im „Autokratzer-Prozeß“ohne Richter Ronald „Gnadenlos“Schill
Die Rellingerstraße ist nicht weit von der Ecke Eimsbüttels entfernt, in der Amtsrichter Ronald Schill wohnt. Ob er Angst davor hatte, daß auch sein Auto eines Tages einen Kratzer abbekommen könnte, ist nicht bekannt. Ebensowenig, ob er deswegen Agnes B. im Oktober vorigen Jahres für zweieinhalb Jahre hinter Schloß und Riegel schicken wollte. Die Frage muß offen bleiben, denn nicht „Richter Gnadenlos“, die eigentliche Hauptfigur des „Autokratzerfalles“, war gestern zum Prozeß geladen, sondern Agnes B., die gegen das harte Urteil Berufung eingelegt hatte.
„Warum hätte ich das denn tun sollen?“, fragt sie ein ums andere Mal. „Die Leute haben mir doch nichts getan.“Und meint damit die acht AnwohnerInnen, die zwischen Februar und April 1996 Kratzer im Lack entdeckt hatten.
Doch es gibt einen Zeugen, der drei Mal gesehen haben will, wie Agnes B. des Nachts fluchend auf Autos zutrat, die vor ihrer Tür nicht parken durften und es dennoch taten. Die habe sie angekratzt, da ist sich Frank M. sicher. Er hatte sich eigens auf die Lauer gelegt, denn auch sein PKW war zweimal lädiert worden.
Die zweieinhalb Jahre Gefängnis hatte Schill vor allem zur Abschreckung potentieller NachahmerInnen für unerläßlich erklärt. Vandalismus am Auto sei ein „massenhaft auftretendes Phänomen“. Gestern konnte Rechtsanwalt Jürgen Reetz allerdings dagegenhalten, daß laut polizeilicher Kriminalstatistik die Fälle 1996 im Vergleich zum Jahr davor sogar abgenommen hätten. Sei's drum.
Schill fühlte sich berufen, ein Signal zu setzen. Durch das Kratzen an fremden Autos, so hatte er weiter ausgeführt, werde die Lebensqualität derer gemindert, die einen erheblichen Teil ihrer Einkünfte in ihr Auto stecken. Vor einer Einbuße an Lebensqualität hätte jeder Angst. Folglich würden viele Menschen erst gar kein Auto kaufen und die Volkswirtschaft erheblichen Schaden nehmen. Und Agnes B. aus Eimsbüttel wäre schuld.
Ob das Landgericht das auch so sieht, wird sich am Donnerstag zeigen, wenn das neue Urteil über die mutmaßliche Autokratzerin verkündet wird. Elke Spanner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen