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Geistige Behinderung – ein Tabu

betr.: „Die Menschen der Zukunft“, taz vom 27. 8. 02

Oliver Tolmein beschreibt zum einen die bei uns gängige Praxis der Pränataldiagnostik und die weitestgehende Selektion von Föten mit einer Trisomie 21 und zum anderen den Streit um die verhinderte „Hamlet“-Inszenierung am Königlichen Theater im Kopenhagen, in der der Regisseur Stefan Bachmann die Ophelia mit einer Schauspielerin mit Down-Syndrom besetzen wollte. Tolmein kommt zu dem Schluss, dass an eine literartische Figur wie die Ophelia bestimmte Publikumserwartungen geknüpft seien, die eine Schauspielerin bewusst erfüllen oder denen sie sich verweigern könne. Solch eine bewusste Verweigerung sei einer behinderten Schauspielerin nun gar nicht möglich, da sie aufgrund ihrer Andersartigkeit überhaupt nicht die Wahl zwischen beiden Optionen habe. Sie werde vom Regisseur nur instrumentalisiert, ohne sich dagegen wehren zu können.

Der der medizinischen Praxis zugrunde liegende Gedanke und Tolmeins Argumentationsstruktur bezüglich der „Hamlet“-Inszenierung weisen eine Parallele auf: In beiden Kontexten wird der von der Normalität abweichende genetische Befund als absolute Kategorie aufgefasst, die ein ganz individuelles Menschsein auszuschließen scheint. Dem Regisseur Bachmann die Vereinnahmung einer Behinderten vorzuwerfen, ist zu kurz gedacht. Immer ist ein Schauspieler auch „Material“, mit dem in einer Inszenierung gearbeitet wird, ist er immer gleichzeitig Instrument des Regisseurs und selbstbestimmt agierender Künstler. Es wäre spannend gewesen, welch eigenen Raum eine behinderte Schauspielerin sich und dem Zuschauer hätte erschließen können.

Hätte der Regisseur die Ophelia über die Geschlechtergrenze hinweg mit einem Mann besetzt, der eine Frau spielt (warum auch immer), hätte kein sich auf diskursiver Höhe der Zeit befindlicher Autor gewagt, zu schreiben, das sei unmöglich, da ein Mann nicht die feststehende Publikumserwartung von der Ophelia als einer Frau erfüllen könne. Tolmein wirft dem Regisseur vor, seine Äußerung vom Behinderten in unserer Gesellschaft als Unberührbarem sei nichts als Kitsch.

Doch bleibt auch bei Tolmein der Behinderte gewissermaßen unberührt. In einer Zeit, da das Andere, das Fremde im intellektuellen Diskurs gemeinhin so weit beleuchtet wird, dass sich der Fremdheitscharakter verliert, scheint geistige Behinderung eines der letzten Tabus zu bleiben. Mit seiner Argumentationsstruktur zementiert Tolmein letztlich die Grenze zwischen Behinderten und Nichtbehinderten. TINA SANDER, Köln

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