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Geist? Fleisch? Oder beides?

Die Werke von Lovis Corinth und Georg Baselitz sind derzeit in zwei großen Ausstellungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu besichtigen. Zufall, heißt es, doch seit heute hängt dennoch ein gemeinsames Plakat  ■ Von Ulrich Clewing

Monika T., die an der Kasse der Neuen Nationalgalerie wartet, um eine Karte für die Baselitz-Ausstellung zu kaufen, ist erstaunt. Vom Kulturforum zur Museumsinsel fahren und auch noch die Corinth-Retrospektive sehen? Baselitz und Corinth im Doppelpack, daran hat die Hamburgerin auf Berlinbesuch „offen gestanden noch nicht gedacht“. Aber das kann sich ja ändern. Immerhin, es wäre eine Überlegung wert: „Wenn Sie meinen.“

Von dem Maler Albert Oehlen ist das Bonmot überliefert, daß, wer die Malerei der jüngeren Vergangenheit verstehen wolle, sich Lovis Corinth ansehen müsse. Auf den ersten Blick eine gewagte These: Schließlich wurde Corinth rund einhundert Jahre vor den Jungen Wilden geboren, und als er 1925 mit 66 Jahren starb, waren die Eltern der KünstlerInnen, die in den siebziger und achtziger Jahren für Furore sorgten, allenfalls im zarten Kindesalter.

Seit letzten Freitag können Interessierte die Probe aufs Exempel machen: Die Neue Nationalgalerie zeigt Gemälde und Skulpturen von Georg Baselitz, im Alten Museum wurde vergangene Woche die Retrospektive auf Lovis Corinth eröffnet. Doch was die Verbindung zwischen beiden Malern angeht, so gibt es darüber durchaus unterschiedliche Ansichten. Für Peter- Klaus Schuster ist die Sache relativ klar: „Nichts, nicht einmal die eigenen Werke“, schreibt der Direktor der Alten Nationalgalerie im Katalog zur Baselitz-Ausstellung, „gehört einem Künstler ganz.“ Schuster sieht Georg Baselitz als einen legitimen Nachfolger „des großen Einzelgängers Corinth“, „des Malers des Fleisches schlechthin“.

Um seine Behauptung zu untermauern, führt der Kunsthistoriker Schuster einige gute Gründe an. Demnach lernte der gebürtige Sachse Baselitz in den fünfziger Jahren an der Kunsthochschule Weißensee nicht nur bei Walter Womacka, sondern auch bei dem Maler Herbert Behrens-Hangeler. Behrens-Hangeler war seinerzeit einer der wenigen Schüler von Lovis Corinth gewesen. Angela Schneider, die die Baselitz-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie betreut hat, empfindet die Sache etwas anders. Sie erkennt in Baselitz eher den Denker als den Handwerker und rückt ihn in die Nähe der Konzeptkunst. Der Umstand, daß der heute in Derneburg bei Hildesheim lebende Künstler seine Bilder seit dreißig Jahren „auf den Kopf“ stellt, sei, so Schneider, nicht so sehr der Betonung des „rein Malerischen“ geschuldet, vielmehr lasse sich darin des Künstlers Unbehagen an der „verrückten Welt“ ablesen. Baselitz' Werk enthalte so eine dezidiert philosophische Dimension: Das, was man gemeinhin „Wahrheit“ nennt, ist stets abhängig vom Standpunkt der Betrachterin. Doch auch für Corinth ist seine Kunst ein Mittel, dem „erschütterten Weltbefinden“ Form zu verleihen. Peter-Klaus Schuster zitiert eine Äußerung, die Corinth angesichts der Verheerungen des Ersten Weltkriegs getan hat: „Mir ist der Boden unter den Füßen entzogen. Ich schwebe in der Luft.“

Wie nun, Geist oder „Fleisch“ (Peter-Klaus Schuster)? Vielleicht beides: Auch Corinth verstand seine Kunst als Kommentar zur aktuellen politischen Situation, sagt eine Mitarbeiterin der Alten Nationalgalerie, die nicht namentlich genannt werden möchte. In der künstlerischen Entwicklung Corinths wie auch in der von Baselitz gebe es immer wieder Momente, in denen sich die beiden Maler, im nachhinein betrachtet, besonders nahe gestanden hätten. Doch daß die zwei Ausstellungen nun gleichzeitig in Berlin zu sehen sind, sei eigentlich Zufall. Das könne man schon allein aus der Tatsache schließen, daß beide völlig unabhängig voneinander konzipiert worden seien: Die Corinth-Retrospektive ist eine Übernahme vom Haus der Kunst in München, die Baselitz-Ausstellung wurde zuerst im New Yorker Guggenheim-Museum gezeigt. Dennoch: „Die Konstellation ist in der Tat auffällig.“

Der Meinung ist man – unabhängig von den Feinheiten der Fachdiskussion – auch bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Dort wurde inzwischen ein Plakat entworfen, das ab heute in der Stadt auf das „Kunstereignis Nummer 1“ aufmerksam machen soll: Baselitz' „Orangenesser“, einträchtig neben dem letzten Selbstporträt von Lovis Corinth aus dem Jahr 1925, zwei „deutsche Maler“ beieinander, gerahmt von knalligem Rot. Das übersieht in den nächsten Wochen so leicht keiner mehr.

Georg Baselitz selbst scheint, nach allem, was man hört, dagegen nicht sonderlich glücklich zu sein über die künstlerische Verwandtschaft mit Corinth. In der Rede, die er Ende Mai zur Eröffnung der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie hielt, kam er auch auf seine persönlichen Vorlieben aus der Kunstgeschichte zu sprechen. Als da wären: Emil Nolde, Edvard Munch und der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner.

Georg-Baselitz-Retrospektive, bis zum 29.9., Di.–Fr. 9–17 Uhr, Sa. und So. 10–17 Uhr, in der Neuen Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Tiergarten

Lovis-Corinth-Retrospektive, bis zum 20.10., Di.–So. 9–17 Uhr, im Alten Museum, Museumsinsel, Mitte

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