Gegen Springer und für Geflüchtete: Weihnachtswunder aus Twitterhausen
Mit einer Anti-Springer-Kampagne sammelt Timon Dzienus seit Weihnachten 2020 Geld für die Seenotrettung. Mittlerweile sind es über 84.000 Euro.
Wie genau das zusammengeht, ist nicht ganz leicht zu erklären – vor allem nicht, wenn man zu den circa 57 Millionen Bewohner:innen dieses Landes gehört, die Twitter nicht nutzen. Der Hintergrund ist nämlich ein Schlagabtausch zwischen Timon Dzienus von der Grünen Jugend und Benedikt Brechtken von den Jungen Liberalen auf Twitter, in den sich schlussendlich auch noch der Chefredakteur und Geschäftsführer von WeltN24 (Die Welt), Ulf Poschardt, einschaltete.
Für die meisten Menschen sind das Namen, die ein eher vages „Habe-ich-irgendwo-schonmal-gehört-Gefühl“ auslösen, aber innerhalb der Twitter-Community sind das die Vertreter zweier gegensätzlicher Lager mit hoher Reichweite – und notorische Vieltwitterer.
Aneinandergeraten sind Dzienus und Brechtken, weil der Junggrüne sich über eine Bild-Schlagzeile mokierte. „Wegen Corona konnte er nicht auf seine Privatinsel!“, stand da über einem Foto von Jörg Pilawa. Dzienus verwies auf die Coronatoten und schrieb dann: „DEINE SCHEIß INSEL IST MIR EGAL, DIE WERDEN WIR DIR ABER AUCH WEG NEHMEN, WENN WIR DICH ENTEIGNEN!“ (Großbuchstaben im Original).
Die twittertypische Zuspitzung ließ sofort die neoliberal-konservative bis rechte Ecke aufschäumen, die sich ohnehin gern in Angstfantasien suhlt, wie schlimm alles wird, wenn erst die grün-sozialistische Ökodiktatur kommt.
Auch Ben Brechtken, der sich gerne zum Posterboy der Libertären in Deutschland stilisiert und dafür vom Welt-Chefredakteur begeistert gefeiert wird, reagierte. Erst einmal mit „Timon. Halt’s Maul“, dann irgendwann mit dem Angebot für ein Streitgespräch – das Poschardt in der Welt abdrucken wollte.
Als Dzienus dies ablehnte, bot Brechtken sogar Geld: 500 Euro für eine gemeinnützige Organisation, die Dzienus aussuchen sollte. Der startete daraufhin lieber seinen eigenen Spendenaufruf – und der ging durch die Decke. Statt 500 Euro kamen am Ende 84.000 Euro zusammen.
Viele sprangen dabei vor allem auf den Anti-Springer-Impuls der Kampagne an. Das wird aus den Angaben beim Verwendungszweck deutlich. Manche spendeten genau den Betrag, den sonst ein Jahresabonnement der Welt kostet.
Ein Twitter-Weihnachtsmärchen also? Nun ja, sagt Timon Dzienus. Der Politikstudent aus Hannover ist mittlerweile zum Bundessprecher der Grünen Jugend aufgerückt – und hat dabei auch aus nächster Nähe erlebt, wie bösartig Twitter sein kann.
Seine Kollegin Sarah Lee Heinrich erlebte einen Shitstorm, der schließlich in Morddrohungen gipfelte – und ihr pöbelige Tweets und Äußerungen vorhielt, die sie als 13- bis 14-Jährige gemacht hatte. „Da habe ich noch mal gesehen, dass eine junge schwarze Frau eben ganz anders angegangen wird“, sagt Dzienus.
Und natürlich sei das schwierig, immer mitzubedenken, wie einem ein uralter Videoschnipsel aus irgendeiner Talkshow oder sonst eine völlig aus dem Zusammenhang gerissene Äußerung um die Ohren fliegen könne.
Auch inhaltlich findet er sich nun plötzlich in einer anderen Situation: „Es ist schon ein Unterschied, ob man aus der Opposition spricht und kritisiert oder ob die eigene Partei an der Regierung beteiligt ist.“
Das scheint für seinen Kontrahenten allerdings noch einmal ein ganz eigenes Problem zu sein. Benedikt Brechtken hat jenseits von Twitter kein nennenswertes Amt – er war für kurze Zeit JuLi-Vorsitzender im Kreisverband Recklinghausen, trat aber schon im vergangenen Jahr nicht wieder an.
Nicht unbedingt ein Happy-End
In seinen jüngsten Tweets arbeitet er sich vor allem an der FDP als Teil der Ampel („Wer hat uns verraten? Freidemokraten“) ab, wettert gegen Coronamaßnahmen und eine drohende Impfpflicht.
Auch im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage kann von einem Happy End noch lange keine Rede sein. „Die Spenden durch den Aufruf von Timon Dzienus haben in jedem Fall maßgeblich zu unserer Arbeit in diesem Jahr beigetragen und wir sind dankbar, für die Aufmerksamkeit, die dadurch auch unserem Fonds sowie den durch uns geförderten Projekten geschenkt wurde“, schreibt eine Sprecherin der Stiftung Seenotrettung auf taz-Anfrage.
Über vier Millionen Euro hat die Stiftung seit ihrer Gründung im Jahr 2019 an verschiedene Projekte verteilt. Anfangs ging es dabei vor allem um die Lager in Griechenland, um die Beratung, Betreuung und notdürftige Versorgung der vielen Geflüchteten, die über das Mittelmeer oder entlang der Balkanroute unterwegs waren.
Gerade hat man den Förderschwerpunkt verschoben und hat jetzt vermehrt Hilfsprojekte im Raum Belarus und Polen im Fokus. Ein Ende der humanitären Katastrophe vor den Toren Europas ist nicht in Sicht. Aber dafür kann natürlich Twitter nichts.
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