Geflüchtete in der Provinz: Die Welt in einem Dorf
2015 kamen sechzig Flüchtlinge nach Röthenbach im Allgäu, zum Beispiel Ali und Fatima Rahimi. Die beiden arbeiten heute im Landgasthof Post.
Sein Chef Peter Dercks, ein kräftiger Endfünfziger, hat ihn nach einem Praktikum im vergangenen Herbst eingestellt. Dass in seiner Küche ein afghanischer Flüchtling arbeitet, sei aus „einer Notsituation heraus“ entstanden, denn der Wirt findet niemanden, der abends und am Wochenende arbeiten will. „Den Deutschen geht’s zu gut“, findet Dercks. Also hat er es mit Ali Rahimi probiert, und es läuft bestens mit den beiden – bis auf die Sprache. „Ich verstehe nicht, was er sagt, und er versteht nicht alles, was ich sage.“
Rahimi, in Küchenschürze und grünem T-Shirt mit dem Emblem des Gasthofs, nickt und lacht, sein Gesicht legt sich dabei in Falten. Die Arbeit gefällt ihm, der Chef und dessen Frau – er nennt sie Frau Brigitte – seien sehr nett. Dass in der Wirtsstube unter dem Kruzifix Schweinshaxe serviert wird, ist kein Problem für Rahimi, der früher Gemüsegroßhändler war. „Ich selber esse kein Schwein, aber die anderen sollen ruhig.“
Röthenbach, ein Dorf mit 1.800 Einwohnern, dessen Bevölkerungszahl sich seit 1840 nicht wesentlich verändert hat, liegt zwischen den Hügeln des Voralpenlands. Zum Bodensee fährt man eine halbe Stunde, nach Österreich eine Viertelstunde. Im Dorf gibt es einen Bäcker, zwei Lokale, eine Grundschule, eine Kirche, ein Pfarrheim, eine Musikkapelle und ein beheiztes Freibad. Die CSU fällt bei Wahlen nie unter 43 Prozent, bei den Landtagswahlen in den Achtzigern lag sie mal bei 68 Prozent. Wer hier geboren ist, liebt die Berge und die grünen Wiesen. Tradition wird hochgehalten, Beständigkeit ist ein Wert an sich. Viele bleiben im Dorf, manche waren nie woanders. Wer sich in Röthenbach auf der Straße begegnet, grüßt sich beim Vornamen. Wer neu ist im Dorf, fällt auf.
„Neigschmeckte“
Die Menschen, die im Herbst 2015 durch den Ortskern liefen, fielen auf, denn sie waren den Allgäuern noch fremder als die „Preißn“ und die anderen „Neigschmeckten“. Sechzig Flüchtlinge kamen ins Dorf. Röthenbach sollte die neue Heimat für Menschen aus Afghanistan, Eritrea, Syrien, Guinea und dem Senegal werden. Die Röthenbacher sprechen heute von der „großen Welle“.
Fragt man Stefan Höß, wie es diesen Ort verändert, wenn die Welt ins Dorf kommt, dann ist die Antwort: „Gar nicht.“ Stefan Höß ist bei den Freien Wählern und der Bürgermeister von Röthenbach, mit seinen 36 Jahren der zweitjüngste im Landkreis Lindau. Als „die große Welle“ kam, war er noch keine anderthalb Jahre im Amt. Höß, kariertes Kurzarmhemd und Gürtelschnalle mit dem Schriftzug „Allgäu“, zögert damals, im Herbst 2015, nicht. Er inseriert im Gemeindeblatt, dass er Wohnungen „für unsere Asylbewerber“ brauche und bringt die Flüchtlinge dezentral unter. Eine Maßgabe vom Landkreis, für die der Bürgermeister viel Lob aus der Bevölkerung bekommt. „Ich habe nie ein böses Wort aus der Bevölkerung gehört. Klar, ein paar hatten Angst, wohin das führen soll, wenn sechzig Asylbewerber kommen. Aber am Ende sind sie durchweg positiv aufgenommen worden.“
Schnell bildet sich 2015 ein Helferkreis, der einen Deutschkurs organisiert und einen Fahrdienst für Einkäufe und Termine beim Amt einrichtet. Zum nächsten Supermarkt sind es acht Kilometer, der Bus fährt dreimal am Tag. Manche der zwanzig Ehrenamtlichen habe der Bürgermeister im Überschwang der Willkommenskultur anfangs etwas bremsen müssen. „Die Freiwilligen waren übermotiviert und wollten die Flüchtlinge zu sehr bemuttern“, erzählt Stefan Höß in seinem Büro in der ersten Etage des Rathauses, eine Gehminute vom Gasthof Post entfernt. Er ist überzeugt davon, dass die Flüchtlinge „selber auf die Füße kommen müssen“. Wenn ein Flüchtling ein paar Mal nicht zum Deutschkurs kommt, ruft der Bürgermeister ihn an und hakt nach. „Das war schon ein ganz schöner Brocken, bis das alles organisiert und am Laufen war“, sagt er. Um schnell hinzuzufügen: „Aber ich traue mich zu behaupten, dass wir das in Röthenbach wirklich gut geschafft haben.“
„Lauter Schwarze“
Wenn es doch mal Probleme gibt, kümmern sich Monika und Helmut Schumann*. Seit dreißig Jahren engagiert sich das Ehepaar aus Norddeutschland, das 1986 einen Bauernhof in Röthenbach gekauft hat, für Flüchtlinge im Allgäu. Damals kamen Tamilen in einen Nachbarort von Röthenbach, später Boat People und „dunkelhäutige Menschen, das ging durch die Presse, die Leute hatten Angst um ihre Töchter“, sagt Monika Schumann. Die Schumanns nahmen selbst zwei vietnamesische Mädchen als Pflegetöchter bei sich auf. In dieser Zeit seien Flüchtlingsbetreuer bedroht worden – auch heute noch wollen sie deshalb anonym bleiben. „Wir wurden damals als Störenfriede betrachtet.“
Heute ist der Bürgermeister froh um die Asylarbeit des Paars. Als im Herbst 2015 der Busfahrer 13 Eritreer zwei Stunden zu früh in einem kleinen Röthenbacher Wohngebiet absetzte, rief Stefan Höß bei den Schumanns an. Gerade habe, so Höß am Telefon, der dritte Anwohner aus der Siedlung angerufen und gesagt: „Da laufen lauter Schwarze durch unsere Gärten.“
Knapp zwei Jahre nach dem Sommer der offenen Grenzen leben von den sechzig Flüchtlingen noch dreißig in Röthenbach. Manche sind weitergezogen in die nächste Kleinstadt oder zu Verwandten in die Großstadt. Zwei sind vor der Abschiebung verschwunden. Wer geblieben ist, spielt im Sportverein Fußball oder Volleyball. Das Asylverfahren haben die meisten abgeschlossen, Jobs suchen viele noch.
„Dieses Dorf ist unsere Chance“
Drüben in der Wirtschaft bereitet Ali Rahimi Gurkensalat fürs Mittagessen vor, er schüttet Salz, Essig und Öl über die gehobelten Gurken und schmeckt ab. Seine Frau Fatima kommt mit einem Korb Wäsche durch die Tür. Der Wirt hat sie als Zimmermädchen eingestellt, weil er auch für die Zimmer kein Personal gefunden hat. Ihr 16-jähriger Sohn Aryan, der älteste, schenkt in den Ferien am Tresen Bier aus.
Im ersten Stock klopft Fatima Rahimi, 33, an die Tür von Zimmer 1, öffnet und ruft „Hallo“, die Gäste sind schon weg. Sie reißt das Fenster auf, schüttelt die zerknüllte Bettdecke und das Kopfkissen auf. Am Schluss ein Knick ins Kissen. Sie sei froh, arbeiten zu können, aber wenn sie die Sprache kann, sagt sie, will sie nicht mehr putzen, sondern kochen, am liebsten afghanisch.
Zu Hause, in jenem schattigen Haus, das abgerissen worden wäre, wenn Familie Rahimi nicht nach Röthenbach gekommen wäre, sagt sie: „Anfangs hatte ich einen Kulturschock.“ Aryan, ihr Sohn, übersetzt für sie. „Die ersten drei Nächte waren schwierig, ich hatte Angst, weil das Haus hier allein steht. Aber dann haben wir gesehen, dass es ein Dorf gibt.“ Heute rufen ihr die Frauen im Dorf „Hallo Fatima“ zu, wenn sie sie sehen.
Vier Frauen helfen der Familie im Alltag, eine macht Deutschübungen mit Fatima Rahimi, eine fährt sie einmal in der Woche mit dem Auto zum Einkaufen in die nächste Kleinstadt, zwei unterstützen sie mit den Ämtern. Zu Weihnachten waren sie bei ihrer Nachbarin, Frau Sabine, eingeladen. Im Dorf kümmern sich die Menschen, sagt Fatima Rahimi. „Dieses Dorf ist unsere Chance.“
*Namen von der Redaktion geändert.
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