piwik no script img

Gefangenenentheater in TempelhofZwischen Kunst und Ausbeutung

Theater und Realität sind Parasiten füreinander: Im Flughafen Tempelhof spielt das Gefangenenensemble Einar Schleefs Stück „Die Schauspieler“.

Inspiration für das Darstellen des Elends: Szene aus „Schauspieler“ vom aufBruch Theater Foto: Thomas Aurin

Das ist ein Déjà-vu für die Flughafenmitarbeiter. In einem der gewaltigen Hangars des ehemaligen Flughafens Tempelhof sind wieder Doppelstockbetten aufgebaut. Sie stammen noch aus den Beständen der einstigen Notaufnahmestätte für Geflüchtete. Das Bettenarrangement ist jetzt Kulisse für die Inszenierung des selten gespielten Stücks „Die Schauspieler“ von Einar Schleef durch das Gefange­nentheater aufBruch.

Der Dramatiker Einar Schleef ließ sich in den 1980er Jahren zum einen von der Geschichte des Moskauer Künstlertheaters von Stanislawski inspirieren, das für seinen Naturalismus berühmt wurde. Für die Uraufführung von Maxim Gorkis Drama „Nachtasyl“ ließ der Hyperrealist des frühen 20. Jahrhunderts seine Schauspieler zur Recherche die nahen Elendsquartiere durchschwärmen. Zum anderen muss Einar Schleef, selbst eher poetischer als realistischer Künstler, vom damals schon in Mode gekommenen Alltagsabkopieren genervt gewesen sein. Nur so jedenfalls werden die Gewalttätigkeiten verständlich, die er seine Theater spielenden Protagonisten beim Besuch eines Obdachlosenheims erleiden lässt.

„Die Schauspieler“ ist ein Stück über das Ausbeuten des Elends zum Zwecke des ästhetischen Gewinns. Ein Stück auch darüber, wie sich die Elenden selbst diesem Ausbeutungsprozess entgegenstellen. Sie tun dies freilich nicht in irgendeiner Form von Emanzipation, sondern indem sie andere herabwürdigen und demütigen. Nur die, die auch geschändet sind, sind den Armen gleich. Sie können zumindest hoffen, als gleich akzeptiert zu werden. Der lange Mittelteil der Inszenierung kulminiert daher auch in einer Vergewaltigungsorgie. Opfer sind, gendermäßig gerecht verteilt, je ein Schauspieler und eine Schauspielerin des Ensembles im Ensemble.

Das Stück ist zugleich eine vielschichtige Versuchsanordnung zum Verhältnis von Realität und Fiktion. Denn mit den „Schauspielern“, die im Obdachlosenheim Inspiration für das Darstellen des Elends suchen, treten Experten der Fiktion auf. Die allerdings, die sie in der Realität vermuten, im realen Elend eben, sind ihrerseits Experten des Aussteigens aus dem Realen. Rausch, Droge, Orgie sind die Vehikel, derer sie sich bedienen. Das Theater selbst, recht eigentlich auch ein Eskapismus-Tool, ist ihnen aber nicht als Instrumentarium geläufig. Dass in der Realität verurteilte Straftäter die Schauspieler spielen, fügt diesem Verhältnis von Spiegelungen und Umkehrungen noch eine Ebene mehr ein.

Weitere Vorstellungen

28. bis 31. August, 1./4. bis 7. September, jeweils 19.30 Uhr. Spielort 
ehemaliger Flughafen Tempelhof, Zugang über Columbiadamm 10. Weitere Informationen: www.gefaengnistheater.de

Momente von Alleinsein, Verlassensein, Gedemütigtsein

Peter Atanassow, seit vielen Jahren Regisseur für das Gefangenentheater aufBruch, richtet das Stück als zeitliches Triptychon ein. Zu Beginn wird das Publikum in Gruppen aufgeteilt und in Gevierte gelotst, die aus den Doppelstockbetten gebildet sind. Dort geben Darsteller, bequem hingefläzt auf den Betten, Einblicke in die eigenen, möglicherweise auch in fiktive Biografien. Übereinstimmend weisen diese Biografiefragmente Momente von Alleinsein, Verlassensein, Gedemütigtsein auf. Es sind Drogengeschichten, Adoptionsgeschichten, Erzählungen vom Aufwachsen in einer Atmosphäre häuslicher Gewalt. In anderen Gevierten werden auch Flucht- und Migrationsgeschichten erzählt.

Danach geht es vom Hangar in einen kleineren Raum. Hier befindet sich in der Stückfiktion das eigentliche Obdachlosenheim. Hier findet die feindliche Begegnung zwischen Künstlern und Ausgegrenzten statt. Beide Gruppen formen sich zu Chören, sie konfrontieren sich, begegnen sich, verschmelzen auch, um sich wieder in Feindschaft herauszulösen.

Am Ende folgt die ästhetisch stärkste Setzung: Zurück im Hangar entzieht sich der neu formierte Chor dem Publikum. Ein riesiges Tor öffnet sich. Der Chor betritt das Flugfeld, wird umrahmt vom Bogen der Begrenzungslichter. Die Stimmen füllen jetzt den Hangar. Die gewaltige Flugzeughalle wird zum Resonanzkörper des Sprechgesangs.Schleef wäre vermutlich begeistert gewesen, selbst wenn er wohl noch präziser als sein Bewunderer Atanassow an der Qualität des Tons gefeilt hätte. Dennoch ein Erlebnis und Anregung zum tieferen Sinnieren über Realität, Abbild und Fiktion.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!