Gedichte von Ocean Vuong: Lyrik auf Erden ist kurz grandios
Endlich liegt ein Gedichtband des jungen US-Schriftstellers Ocean Vuong auf Deutsch vor: „Nachthimmel mit Austrittswunden“.
Ocean Vuong erzählt gern, er sei ein Kind der Neunziger und habe als solches gern Autorennen gespielt, Mario Kart. Und Lyrik schreiben habe durchaus etwas mit dem Zocken an der Konsole gemein: Wenn du nicht auf das Level kommst, das dir vorschwebt (und kaum je wird es direkt gelingen), startest du immer und immer wieder aufs Neue, bis du dort angelangst.
Ein Autorennen hat Ocean Vuong mit seinen Gedichten zwar nicht gewonnen, dafür aber 2017 einen der begehrtesten Lyrikpreise der Welt, den britischen T. S. Eliot Prize, für seinen Gedichtband „Night Sky with Exit Wounds“ von 2016. Damit steht er in einer Reihe mit Leuten wie John Burnside oder Ted Hughes, dem Mann von Sylvia Plath.
Geboren auf einer Reisfarm bei Saigon, Vietnam, hat Vuong eines seiner ersten Lebensjahre in einem Flüchtlingslager auf den Philippinen verbracht. Mittlerweile ist er Juniorprofessor für Lyrik – und steht, wie auch der im Iran geborene Kaveh Akbar, ebenfalls 31 Jahre alt, für eine neue Strömung autofiktiver Lyrik in den USA mit sozialpolitischem Bewusstsein.
Im Dankeswort seines Romans huldigt Vuong der japanisch-amerikanischen Sängerin und Gitarrenschrammlerin Mitski sowie R&B-Gott Frank Ocean. All dies passt natürlich zum Vergleich mit den Videospielen: Gedichte sind für Vuong nicht bloß für erlauchte Akademiker*innen, sondern sie haben sehr viel mit unserem mal banalen, mal brutalen und immer wieder grandiosen Leben auf Erden zu schaffen.
Nachdem Ocean Vuongs Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ 2019 auch hierzulande gefeiert wurde als eines der besten Bücher des Jahres, mindestens, bringt der Hanser Verlag nun, nachträglich quasi, besagten, auf Englisch schon längst erschienenen Lyrikband heraus, zweisprachig englisch und deutsch: „Nachthimmel mit Austrittswunden“.
Krieg, Verletzung, Verlust
Austrittswunden sind nun nicht einfach irgendwelche Wunden, aus denen Eiter oder Blut austritt, sondern sie sind die Wundstellen des Körpers, die etwa eine Revolverkugel reißt, wenn sie den Körper wieder verlässt – und damit der Gegenpart zur Eintrittswunde. Damit sind auch schon wichtige Sujets markiert: Krieg, Verletzung, Verlust. Aber auch: Exit als Emigration ins Exil.
Ocean Vuong: „Nachthimmel mit Austrittswunden“, aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Hanser Verlag, München 2020, 176 S., 19 Euro
Wer den sprachgewaltigen Roman Ocean Vuongs gelesen hat, dem wird nun bei der Gedichtlektüre einiges vertraut vorkommen: das Begehren des lyrischen Ichs für einen anderen Jungen, in einem Auto vor der Farm; der Analphabetismus der aus Vietnam in die USA immigrierten Mutter, die nun im Nagelsalon schuftet; 9/11; häusliche Gewalt; das schwierige Verhältnis zum in seiner Abwesenheit sehr anwesenden Vater; erlegte Tiere; die Freunde, die an Überdosen starben; die Brutalität konventioneller Konzepte von Männlichkeit; die Erlebnisse der Großmutter im Vietnamkrieg; und die Sprache selbst als merkwürdige, fragwürdige Begrenzung unseres Denkens, unserer Welt – deren Konventionen es daher zu kippen gilt.
Die Übersetzung kann den Vuong’schen Sound, bei dem es auch sehr auf den Rhythmus ankommt, leider nicht ins Deutsche retten. Umso besser, dass die Übertragungen wohl eher als Verständnishilfen zu verstehen sind in diesem bilingualen Druck.
Es wäre nun aber falsch zu meinen, Vuong hätte mit dem Gedichtband 2016 quasi schon vorab den Roman vorgelegt. Vielmehr hat er sich beim Romanschreiben die Freiheit genommen, abermals wie ein Dichter vorzudringen: „Ja, es war okay für mich, all diese Themen anzupacken“, hat Ocean Vuong der taz bezüglich des Romans gesagt, „denn ich war ja ein Dichter. In einem Gedichtband hat man die Chance, mit jedem einzelnen Gedicht etwas Eigenes zu sagen. Mit meinem Roman wollte ich das Gleiche.“
Penis oder Klit?
Wenn er Telemach auf seinen Vater Odysseus treffen lässt, sind beide damit überfordert, welche Rollen sie als Männer, als Vater und Sohn zu erfüllen haben. Wenn Vuong nach Troja zieht, ist da auch ein Junge, dessen rotes Kleid von ihm abblättert „wie die Schale eines Apfels. Als würden ihre Schwerter nicht geschliffen in ihm.“
Vuong montiert „White Christmas“ parallel mit dem Ende des Vietnamkriegs; er dichtet über Blowjobs und schreibt eine Ode auf die Masturbation, in der das lyrische Du Salz von der Schwanz-Klit schabt, also einem Geschlechtsteil, bei dem nicht gleich klar ist, ob es sich um einen Penis oder eine Klitoris handelt.
Vuongs Gedichte können zärtlich und schonungslos sein, hartnäckig und flüchtig, hermetisch und direkt. Sie sind voller Wunden, voller Zweifel, voller Liebe. „Eines Tages werde ich Ocean Vuong lieben“ heißt eines der Gedichte. Viele, die Vuong gelesen haben, werden ihn aber nicht erst eines Tages lieben, sondern schon heute: als jungen Poeten des verdichteten Verlusts.
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