Gedichtband von Semra Ertan: „Später werden sie es schätzen“

Fast 40 Jahre nach ihrem Suizid präsentiert ein Band die Gedichte von Semra Ertan. Viele Themen sind aktuell: Rassismus, Kapitalismus und Widerstand.

Portrait von Semra Ertan

Studierende 1982 bei einer Mahnwache gegen Rassismus, das linke Transparent zeigt Semra Ertan Foto: Fritz Neuwirth/SZ Photo

Erschreckend lang sind die Listen mit Namen von Menschen, die durch rechte Gewalt in Deutschland gestorben sind. Wie lang wäre eine Liste von Menschen, die zwar keine Gewalt, aber schwere seelische Folgen infolge von Rassismus und Diskriminierung erlitten haben? Ein Name auf so einer Liste wäre wohl Semra Ertan, die aus Protest Suizid begangen hat.

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Der rassistische Anschlag in Hanau hat einmal mehr gezeigt, dass die Bedrohung durch Rechte und Rassismus auch fast vier Jahrzehnte nach Ertans Tod allgegenwärtig ist. Im Diskurs um das Gedenken der Opfer findet Semra Ertan aber nur selten Erwähnung. Der nun erschienene deutsch- und türkischsprachige Lyrikband „Mein Name ist Ausländer. Benim adım yabancı“ ruft sie wieder ins Gedächtnis.

1957 im südtürkischen Mersin geboren, folgte Semra Ertan als 15-Jährige ihren bereits in Kiel arbeitenden Eltern nach Deutschland. Sie übte verschiedene Tätigkeiten aus, arbeitete als Bauzeichnerin und bekam nur wenig Möglichkeiten, sich weiterzubilden oder gar zu studieren. Dem Schreiben widmete sie sich seit ihrer Ankunft.

Nach rund zehn Jahren in Deutschland und einem vorangegangenen Hungerstreik zündete sich Semra Ertan am Morgen des 24. Mai 1982 mitten im Hamburger Stadtteil St. Pauli aus Protest gegen den Rassismus in Deutschland an. Davor kontaktierte sie den NDR, um ihre Tat anzukündigen, Gleichbehandlung von Mi­gran­t*in­nen zu fordern und diese Forderung mit ihrem Gedicht „Mein Name ist Ausländer“ zu beenden. Zwei Tage später, an ihrem 25. Geburtstag, starb sie an den schweren Verbrennungen.

„Tod einer Türkin“

Die Aufmerksamkeit für ihre Person war daraufhin für kurze Zeit groß. Nach ihrem Tod protestierten Tausende Menschen in Hamburg gegen Rassismus. Deutsche Medien sprachen häufig vom „Tod einer Türkin“, die dabei oft nicht mal beim Namen genannt wurde.

Semra Ertan: „Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı“ – Gedichte | Şiirler. 240 Seiten, 2020. Erschienen in der edition assemblage

Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) beschwor Integration als Ziel der sogenannten Ausländerpolitik und sprach von einer „Verzweiflungstat, die eine Mahnung an jeden Einzelnen von uns sein sollte“. Türkische Medien sprachen mit Ertans Eltern über den Verlust ihrer Tochter und diskutierten die rassistische Stimmung in Deutschland. In beiden Ländern verhallte dieses Echo jedoch sehr bald.

Rassistisches Klima der BRD

Fast vergessen heutzutage ist auch der rechtsextreme Anschlag auf eine Hamburger Geflüchtetenunterkunft im August 1980, bei dem die Bewohner Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu starben. Kurz danach wurden beim Oktoberfestattentat in München 13 Menschen durch rechten Terror getötet.

Wieder in Hamburg brachten im Dezember 1985 Rechtsextreme den Migranten Ramazan Avcı um. Der Anwerbestopp und das „Rückkehrhilfegesetz“ von 1983 sollten einst angeworbene Ar­beits­mi­gran­t*in­nen schnellstmöglich zur Ausreise bewegen und griffen damit den damaligen Zeitgeist der Bevölkerung auf. Noch vor den sogenannten Baseballschlägerjahren der 1990er fiel Ertans Suizid in eine Phase, in der in Deutschland rassistische Stimmung und Feindseligkeit gegen Mi­gran­t*in­nen herrschten.

Mehrfach trat sie in den Hungerstreik

In ihrer Lyrik prangerte Semra Ertan institutionellen Rassismus genauso an wie patriarchale Strukturen, erzählte von ihrer eigenen Migrationserfahrung und von Zweisamkeit wie Einsamkeit. Mehrfach trat sie in den Hungerstreik gegen diskriminierende Zustände oder demonstrierte gegen den damaligen NPD-Ableger „Hamburger Liste für Ausländerstopp“. Ertan solidarisierte sich mit Geflüchteten und half anderen Mi­gran­t*in­nen bei Behördengängen. Noch am Abend vor ihrer Tat soll sie sich in den Hamburger Räumen des türkisch-sozialdemokratischen Vereins HDF aufgehalten haben.

Aus Reimen machte sie sich nicht viel, sprach stets im lyrischen Ich und formulierte ihre Anliegen umso feinfühliger und klarer: „Lasst euch nicht unterdrücken“ oder „eure Waffen sollen eure Wörter sein“. Ihr Schreiben war eine Form von Widerstand gegen die Ungleichbehandlung und gegen das Schweigen der Mehrheitsgesellschaft.

„Der ganze Körper wie eine Flamme, Wo sind die vergangenen Jahre?“, fragt sie in einem ihrer Gedichte fast wie in Voraussicht ihres Suizids. „Erst später werden sie es schätzen, Deren Wert […] Dann werde ich, Allen unbekannt, In weiter Ferne sein“, schreibt sie 1977 in „Was ich mir wünsche! […]“ Eindringlich und wenig verschnörkelt, meist mit Datum, oft sogar mit Ort oder Uhrzeit versehen schrieb Ertan und fühlte sich doch meist ungehört. Immer wieder bediente sie sich der Narrative und dem politischen Vokabular der Arbeiter*innenbewegung, mit der sie sich identifizierte.

„Hier, Unsere Klassen, unsere Schulen sind getrennt, Unsere Sprache, unsere Traditionen sind getrennt, Unser Name ist Ausländer“, schreibt Ertan über die Ausgrenzung in Deutschland. Ihre Poesie thematisierte aber auch das Dasein zwischen zwei Ländern. Sie fühlte sich auch von der Türkei verraten, die sich durch die ins Ausland entsandten sogenannten Gast­ar­bei­te­r*in­nen Devisen für die schwächelnde Wirtschaft erhoffte.

Teilhabe jenseits von Arbeitskraft abgesprochen

Gleichzeitig bestanden in der Türkei Vorbehalte über die im Ausland lebenden Türkeistämmigen: „In meiner Heimat, Halten sie nichts von uns, Seit Jahren in der Ferne.“

Zwar schrieb Ertan meist auf Türkisch, dennoch gehört auch sie mit ihrem Schaffen zur frühen Generation türkeistämmiger Li­te­ra­t*in­nen in Deutschland wie Aras Ören oder Emine Sevgi Özdamar, um nur zwei von ihnen zu nennen. Auch Semra Ertan ist ein Beispiel dafür, wie früh sich Migrant*innen, denen Teilhabe jenseits von Arbeitskraft häufig abgesprochen wurde, politisch und literarisch betätigten. Dieses Engagement fand jedoch als sogenannte Gastarbeiterliteratur nur wenig Beachtung.

Bisher keine eigene Publikation

Immer wieder betonte Ertan in ihren Gedichten, dass sie eine unerfahrene Schriftstellerin sei. Ihre Hoffnung war es, sich im Schreiben zu professionalisieren. Doch ab wann gilt das Schreiben als professionell? Fast zum Ende zeigt der Band ihren Mitgliedsausweis beim Verband deutscher Schriftsteller; Ertan hat ihn wenige Wochen vor ihrem Tod unterzeichnet.

Einige ihrer Gedichte hat sie in der türkischen Zeitung Hürriyet veröffentlicht, einige sind nach ihrem Tod in anderen Sammelbändern erschienen. Sie wurden von Gewerkschaften in Deutschland rezitiert oder kursierten seit Jahren im Internet. Zu einer eigenen Publikation kam es bisher nicht.

„Schmerzlos, ohne Sorgen“

Alte türkische Zeitungen zeigten Ertans Eltern, wie sie ein Schwarz-Weiß-Foto ihrer verstorbenen Tochter halten. Auch für die Her­aus­ge­be­rin­nen Zühal Bilir-Meier, Ertans Schwester, und Cana Bilir-Meier, Ertans Nichte, ist die Auseinandersetzung mit Semra Ertans Verlust ein bis heute kräftezehrender Teil ihrer Familiengeschichte. In mühseliger Arbeit wählten sie 82 aus 350 Gedichten aus, die jahrelang in einer Kiste lagen, übersetzten diese und fragten zahlreiche Verlage an. Ergänzt wurden die Gedichte mit Fotos, Abbildungen der fein säuberlich, auf kariertem Papier geschriebenen Gedichte und Briefe.

Statt über Semra Ertan und die Mühen hinter dem Band zu sprechen, ist es der Wunsch der Herausgeberinnen, Ertan als Dichterin selbst sprechen zu lassen. Cana Bilir-Meier greift in ihrer Arbeit immer wieder die Worte ihrer Tante auf. Kürzlich ließ die in München lebende Künstlerin auf der sogenannten Kunst-Insel in der Münchner Innenstadt eine Plakatwand mit einem Zitat der Dichterin plat­zie­re­n:

Ich will leben,

Wie ich es mir wünsche …

Schmerzlos, ohne Sorgen

Yaşamak istiyorum

Gönlümce …

Kedersiz, sorunsuz

Mehr Menschen sollen von Ertans widerständiger Poesie und ihrem Schicksal erfahren. Und es ist längst überfällig, dass ihr Wunsch, ihre Gedichte gesammelt zu veröffentlichen, rund 40 Jahre später in Erfüllung geht.

Hinweis: Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie da­rüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen

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