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Gedenkstättenleiter über NS-Erinnerung„Uns fehlen Zeit und Personal“

Der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Günter Morsch, wünscht sich: Berlin soll sich stärker mit dem Gedenkort identifizieren.

Die Gedenkstätte Sachsenhausen lebt von Ausstellungen in Orginalgebäuden Foto: dpa
Interview von Uta Schleiermacher

taz: Herr Morsch, wie haben sich Sachsenhausen und die Brandenburgischen Gedenkstätten seit den 1990er Jahren entwickelt?

Günter Morsch: Es gab damals so gut wie keine wissenschaftliche Forschung, der Bauzustand der historischen Relikte und der DDR-Denkmäler war ein Desaster, die Ausstellungen waren dringend überarbeitungsbedürftig. Wir haben die Gedenkstätten zu modernen zeithistorischen Museen weiterentwickelt, was dann eine gewisse Vorbildfunktion für andere hatte. Vor allem ging es darum, die Geschichte von Sachsenhausen insgesamt zu erzählen: die des NS-Konzentrationslagers, die Phase des sowjetischen Speziallagers, die in der DDR völlig tabuisiert war, und schließlich, wie die Gedenkstätte in der DDR-Zeit entstanden ist.

Sachsenhausen ist 1936 als „Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt“ gegründet worden. Wie war die Verbindung zwischen Berlin und Sachsenhausen?

Schon ab 1933 kam die politische, künstlerische und intellektuelle Elite Berlins zu einem großen Teil in das KZ Oranienburg. Und 1936, während Millionen Menschen auch aus dem Ausland Berlin besuchten und über die Olympiade jubelten, wurde Sachsenhausen als völlig neues, Himmler sagte, „modernes Konzentrationslager“, aufgebaut. Man wollte die kleinen Lager, etwa Papestraße oder Columbiadamm, aus der Stadt herausschaffen, so wie man zur Olympiade auch alle Sinti und Roma nach Marzahn verschleppt hat, die später auch zu einem großen Teil nach Sachsenhausen kamen. Das Konzentrationslager wurde mit Absicht bei der Reichshauptstadt gegründet.

Warum wollte man hier ein Konzentrationslager aufbauen?

Das hatte etwas mit der Ansicht der traditionellen Führungseliten zu tun, dass Berlin als rote Hauptstadt eine Gefahr für den von Anfang an geplanten neuen Krieg sei. Das Militär, weniger die NSDAP, wollte dicht bei Berlin ein großes Lager für dieses aufständische querulatorische Volk. Nach der sogenannten Reichskristallnacht kamen die meisten der über 6.000 Juden, die nach Sachsenhausen verschleppt wurden, aus Berlin. 1939 wurden die sogenannten polnischen und staatenlosen Juden aus dem „Scheunenviertel“ unter pogromartigen Begleitumständen über die Berliner Bahnhöfe nach Sachsenhausen transportiert. Umgekehrt entstanden ab 1942 mitten in Berlin insgesamt etwa 30 Außenlager.

Wo sind heute noch Spuren dieser Außenlager zu sehen?

Häufig hat man die Spuren beseitigt. Beim Außenlager Lichterfelde engagiert sich eine Bürgerinitiative, dort gibt es regelmäßige Gedenkveranstaltungen, in Spandau gibt es eine Geschichtswerkstatt. Aber viele Außenlager sind bis heute nicht markiert.

Bild: dpa
Im Interview: Günter Morsch

geboren 1952, Historiker und Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, ist seit 1993 Leiter der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, seit 1997 Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Sein Nachfolger wird ab Juni 2018 der Münchner Historiker Axel Drecoll.

Woran liegt das?

Diese Orte liegen meistens in Industriegebieten, weniger in Wohnvierteln, und sind nur noch schwer auffindbar. Umso wichtiger ist es, dass Berlin sie systematisch kennzeichnet. Es gibt auch kaum einen Friedhof in Berlin, auf dem nicht Häftlinge von Sachsenhausen liegen, das erst ab 1940 ein eigenes Krematorium hatte. Diese Friedhöfe haben wir umfangreich dokumentiert, auch da würde ich mir wünschen, dass es endlich gemeinsam mit Berlin eine Kennzeichnung dieser Gräber und eine entsprechende Broschüre gibt. Aber leider sind wir immer wieder daran gescheitert, dass die Bezirke für die Friedhöfe zuständig sind. Wir können nicht mit allen Bezirken einzeln reden.

Interessiert sich Berlin nicht für die Geschichte Sachsenhausens?

Nehmen Sie den Ort, an dem wir das Interview führen, das T-Gebäude. Es war ab 1938 Sitz der Inspektion der Konzentrationslager. Es ist der wichtigste noch vollständig original erhaltene Ort der Schreibtischtäter. Das ist in Berlin weitgehend unbekannt. Sachsenhausen hat in Berlin nicht den Stellenwert, wie das für Dachau in München inzwischen selbstverständlich ist.

Sachsenhausen und Oranienburg

1933–1934 KZ Oranienburg, errichtet in einer ehemaligen Brauerei mitten in der Stadt, als erstes Konzentrationslager in Preußen. Rund 3.000 Menschen waren dort inhaftiert.

1936–1945 KZ Sachsenhausen mit insgesamt über 200.000 Häftlingen: politische Gegner, von den Nazis verfolgte Gruppen und Bürger aus besetzten Staaten. Zehntausende starben durch systematische Vernichtung, Misshandlungen, Zwangsarbeit, Krankheiten oder Hunger. Neben dem Lager in Oranienburg gab es rund 100 Außenlager, 30 davon im Stadtgebiet von Berlin. Ab 1938 auch Sitz der „Inspektion der Konzentrationslager“.

1945–1950 Sowjetisches Speziallager mit insgesamt rund 60.000 Häftlingen, unter ihnen NSDAP-Funktionäre und KZ-Aufseher, politische Gegner, willkürlich Verhaftete und Verurteilte sowjetischer Militärtribunale. Mindestens 12.000 Menschen starben aufgrund der Haftbedingungen.

1961 Einweihung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen mit zentralem Mahnmal, die Originalbauten werden größtenteils nicht erhalten.

1993 Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen als Teil der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, 13 ständige Ausstellungen und wechselnde Sonderausstellungen, jährlich rund 700.000 Besucher. (usch)

Warum nicht?

Da scheint nicht selten immer noch die Mauer im Kopf wirksam zu sein. Wir stellen leider nach wie vor die Vorherrschaft einer Geschichtsinterpretation fest, die sehr stark aus der Sicht Westdeutschlands und Westberlins bestimmt wird. Vor allem die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (eine antikommunistische Organisation im Westberlin der Nachkriegszeit, d. Red.) hat systematisch versucht, die Geschichte des NS-Konzentrationslagers in Vergessenheit zu bringen und stattdessen das sogenannte Rote Konzentrationslager zwischen 1945 und 1950 in den Vordergrund gestellt. Diese Sicht auf die Geschichte war im Kalten Krieg dominierend und hat sogar jemanden wie Willy Brandt ergriffen.

Willy Brandt?

Die SPD hat im Vorfeld der Gründung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte 1961 in Bad Godesberg eine Art Gegenkongress abgehalten. In Brandts dortiger Rede kam mit keinem Wort das Konzentrationslager vor, obwohl Menschen wie Julius Leber, den er selbst als Lehrer verehrt hat, und viele andere Sozialdemokraten nicht zuletzt aus Berlin in Sachsenhausen gewesen waren. Stattdessen behauptete Brandt, dass die meisten Häftlinge des „Roten Konzentrationslagers“ Sozialdemokraten gewesen wären. Unsere Forschungen zeigen heute ein anderes Bild. Unter 60.000 Häftlingen im sowjetischen Speziallager konnten wir nur wenig mehr als 100 Sozialdemokraten identifizieren. Das sind die Mythen, die teilweise weiterleben, und das setzte sich auch nach der Einheit fort.

Kommen mehr BesucherInnen aus Ostdeutschland nach Sachsenhausen?

Die Anzahl der Brandenburger Schulgruppen steigt nach wie vor an, der Zuspruch der Schulen aus Berlin ist dagegen seit 2006 stark gesunken. Das geht allerdings nicht nur Sachsenhausen so. Auch am Haus der Wannseekonferenz bleiben Schulgruppen aus Berlin vermehrt weg.

Wie erklären Sie sich das?

Die Bedingungen für Gedenkstättenbesuche haben sich deutlich verschlechtert und es ist schwierig, mit den dezentralen bezirklichen Schulverwaltungen zu kommunizieren. Man muss keine Pflichtbesuche einführen, wie es die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli kürzlich forderte, aber man sollte die Bedingungen verbessern.

Wie sollte das Erinnern und Gedenken heute aussehen?

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die Lernformen verändert. Wir müssen unsere Fragestellungen anpassen, stärker von den Opfern auf die Täter fokussieren, denn in ihren Strukturen, in ihren Mentalitäten liegen die Ursachen für den Terror. Aber die Gedenkstätten sind im Vergleich zu großen Museen finanziell und personell unterprivilegiert. Wir können die vielen interessierten Menschen aus aller Welt nicht so betreuen, wie wir das wollen. Ein oder zwei Tage, idealerweise eine ganze Woche lang an diesem Ort zu lernen, ist viel nachhaltiger, als zwei Stunden lang über das Gelände geführt zu werden.

Wie würden Sie die Vermittlung angehen?

Wir setzen auf selbstständiges Lernen, gehen auf Interessen und unterschiedliche Bewusstseinslagen ein. Wir haben ja mit Absicht keine große zentrale Ausstellung, sondern spezifische, kleine Museen in den authentischen Gebäuden, etwa zu der Frage, die sich noch immer aus der Bewältigung der eigenen Familienerzählungen ergibt: Was wusste eigentlich die Umgebung? Was uns fehlt, sind Zeit und Personal, um dies intensiv mit vielen Gruppen über einen längeren Zeitraum zu bearbeiten.

Sie entwickeln auch eine Handy-App: Wie wichtig sind solche Medien?

Natürlich müssen wir mit der technischen Entwicklung Schritt halten, indem wir in unseren Ausstellungen auch moderne Medien nutzen. Gerade junge Menschen beurteilen Museen nach dem Internetauftritt. Allerdings interessieren sich auch die Jugendlichen hauptsächlich für die dinglichen Artefakte in unseren Museen und weniger für die Medien, als man gemeinhin annimmt. Mit der App, mit der man die Außenlager in Berlin erkunden kann, wollen wir die erreichen, die sich fragen, was vor ihrer Haustür, in Wilmersdorf oder in Lichterfelde, geschah.

Jenseits von der Forderung nach Pflichtbesuchen bleiben Gedenkstättenbesuche also wichtig.

Gedenkstätten sind wichtige Mosaiksteine der historisch-politischen Bildung. Aber wir dürfen uns nicht zurücklehnen, sondern müssen unsere pädagogischen Angebote immer überprüfen, ob sie noch die aktuellen Fragen von jungen Menschen aufgreifen. Leider ist das Koalitionsabkommen der neuen Regierung für uns eher enttäuschend. Gegenüber anderen Museen, die von Fläche und Besucherzahl vergleichbar sind, sollen die NS-Gedenkstätten offenbar nach wie vor deutlich unterprivilegiert bleiben.

Wie könnte man Sachsenhausen stärker im Berliner Bewusstsein verankern?

Im sogenannten Humboldt Forum soll eine stadtgeschichtliche Ausstellung entstehen, die wohl vor allem Berlins Rolle in der Welt thematisiert. Ich würde mir wünschen, dass Sachsenhausen daran einen relevanten Anteil hat. Hier waren Häftlinge aus 40 Nationen und zahlreichen Gruppen, hier waren die späteren Repräsentanten ganzer Nachkriegsregierungen inhaftiert: In Norwegen etwa kamen bis in die 70er Jahre vom Ministerpräsidenten bis zum Sozialminister alle aus Sachsenhausen. Wenn man die Beziehungen von Berlin zu europäischen Ländern verstehen will, muss man begreifen, welche Rolle Sachsenhausen dabei spielt.

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