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Geboren aus dem Schlamm

Im brasilianischen Mangue-Beat gehen dörfliche Roots und urbanes Lebensgefühl, Ghetto- und Alternativkultur eine fruchtbare Koalition ein

von JAN Ü. KRAUTHÄUSER

Recife, die Provinzhauptstadt von Pernambuco, ist mit gut zwei Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt Brasiliens. Neben Sonne, Meer und Kunsthandwerk ist sie berühmt für ihren Karnevalsumzug, der als größter der Welt gilt – und ihre brodelnde Subkulturszene, die seit Jahren als Kreativpool der brasilianischen Popmusik gehandelt wird. Musiker wie Otto, Mestre Ambrósio und Cascabulho haben das zwar noch nicht in entsprechenden Star-Status ummünzen können. Dennoch sind sie einem europäischen Fachpublikum bekannt – als geistige Erben der Maracatu-Rockkombo Nação Zumbi, deren Kopf Chico Science – Lichtgestalt des progressiven Brasiliens – 1997 einem Autounfall zum Opfer fiel. Vielen Zweiflern zum Trotz ist die von ihm mitbegründete Bewegung des Mangue-Beat (Mangue heißt Sumpf) nicht im Morast versunken. Im Gegenteil: Sie präsentiert sich heute vitaler denn je.

DjDolores, der radikalste Innovator der Szene, resümiert: „Die Mangue-Bewegung begann nicht mit Bands, sondern mit Partys in Recife Antigo, wo wir uns günstige Räume im Puffmilieu mieteten, um uns gegenseitig rare Import-Platten vorzuspielen. Es herrschte ein großer Hunger nach Informationen. Der Mangue-Stil entstand dadurch, dass wir unsere Entdeckungen mit altem brasilianischem Material vermischten. Chico Science hat damals etwa Jungle-Musik aus London gespielt, und danach dörfliche Pífano-Musik mit schwerer Percussion, die vom Rhythmus her im Grunde sehr ähnlich klang.“

DjDolores gestaltete damals als Grafiker die Flyer und Plakate der Partys. Heute enstehen auf seinem Rechner die abgefahrensten Dancefloor-Collagen nordostbrasilianischer Herkunft: Minimalisierte Forró-Tänze mit subsonischem Unterleib, Politiker-Statements im Dub-Remix und technoide Ragga-Versionen alter Gassenhauer. Bisher kann man seine Arbeit nur auf Compilations bewundern (etwa auf der fantastischen „Baião de Viramundo“, die führende Pop-Erneuerer aus Recife und São Paulo ihrem Vorbild Luiz Gonzaga gewidmet haben).

Beim RecBeat-Festival, das während der Karnevalstage in Recife die jugendlichen, härteren Klänge der Region präsentiert, konnte man DjDolores live erleben. „Orquestra Santa Massa“, wie sich seine Future-Folk-Kombo nennt, fusioniert unverkitschte Dorffolklore mit Tropenrock und handgesteuerten Elektro-Sounds. Zurzeit dürfte es kaum ein Projekt geben, das die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der brasilianischen Musik besser bündelt. Frontmann Maciel Salu entstammt einer dörflichen Musikerdynastie, deren weithin vergessenes Spiel der Rabeca, einer Art altertümlicher Geige, zum Markenzeichen der neuen Rootsbewegung aus dem Nordosten geworden ist. „Ich schätze die Arbeit mit Maciel sehr, gerade weil wir so gegensätzlich sind“, schwärmt DjDolores von seinem versierten Mitmusiker: „Für mich ist die Tradition da, um gebrochen zu werden. Im Maracatu gibt es auch Gewalt, Machismo, Rassismus, alles. Du musst das durch deine Ethik zu einer neuen Tradition transformieren.“

Ohne religiösen Ballast

Viele Protagonisten der Mangue-Szene geben sehr reflektierte, ja geradezu philosophische Statements zu ihrer Musik ab – und arbeiten zuweilen gar als Lehrer oder Historiker. So wie Guilherme Medeiros, dessen Band Chão e Chinelo sich einer gelegentlich ins Psychedelische abdriftenden Folklore-Variante verschrieben hat. „Unlängst hatte die Jugend hier nur Rock und Rap im Kopf. Lediglich einige Studenten aus der Stadt besuchten noch die alten Meister, um von ihnen fast vergessene Techniken zu lernen. Die Gruppe Maracatu Nação Pernambuco stand am Anfang dieser Rückbesinnung. Dann kam Chicos Idee, eine völlig neue Mischung zu machen. Diese Bewegung hat die ganze musikalische Identität dieses Staates verändert.“

Nação Zumbi – die Band, mit der Chico Science einst seinen Mangue-Rock prägte – steht nach wie vor im Zentrum der Bewegung und ist Vorbild für ungezählte Vorstadt-Bands, von denen die besten beim RecBeat-Festival die Basis bilden.

Jorge du Peixe, Sänger und Percussionist von Nação Zumbi, der sich unter die Zuschauer in der karnevalistisch geschmückten Altstadt Recifes gemischt hat, erinnert sich an die Anfänge: „Als wir 1993 unser erstes Album ‚Da Lama Ao Chaos‘ (‚Vom Schlamm ins Chaos‘) aufgenommen haben, hatte Recife noch sehr wenig zu bieten. Wir wollten hier eine neue Regionalkultur zum Blühen bringen, fast wie eine Art Quilombo (ein ‚Staat befreiter Sklaven‘, d. Red.). Erwarte nichts vom Zentrum, wenn die Peripherie tot ist – das war unser Motto. Die lokalen Rhythmen des Maracatu spielen wir schon seit unserer Kindheit. Da lag die Idee nahe, sie ohne ihren religiösen Background für uns zu nutzen.“

Nach dem Tod von Chico Science und dem überragenden Doppelalbum „CSNZ“, das posthum erschien (und neben Livematerial auch Remixes von David Byrne und Goldie enthielt), war es für Nação Zumbi denkbar schwer, nachzulegen. Mit ihrem jüngsten Werk aber, „Radio S.Amb.A“, haben sie sich in die Spitzengruppe der brasilianischen Rockszene zurückgespielt. Hier mischen sich Roots, Rock und Reggae, aber auch Kraftwerk-Zitate, Santana-Gitarren und Ciranda-Reigentänze finden Eingang ins Mangue-Beat-Update der Peripheristen.

Dass die afrobrasilianische Tradition des Maracatu mit ihrer komplexen Ritual-, Tanz- und Kostümkultur im Karneval von Recife überlebt hat, deutet an, welch kreative Rolle den regionalen Volksfesten Brasiliens noch immer zukommt. Aktuell zeigt sich das auch in der Aufwertung des gigantischen Straßenkarnevals durch Festivalbühnen im historischen Kern der Provinzmetropole. Mit massiver Unterstützung der Kulturämter haben hier die Musiker der Region die Chance, sich einem breiten Publikum zu präsentieren.

Auf einer großen Fernsehbühne am Hafen tun dies gestandene Lokalmatadoren wie Alceu Valença, Artúlio Madureira und Antonio Nóbrega mit Broadway-reifen Folklore-Shows. Kleinere Bühnen präsentieren Forró-Bands und Frevokapellen, Coco-Sängerinnen und sogar eine waschechte Fulni-ô-Indianer-Gruppe namens Fethxa, die nicht nur bei ihren politischen Statements den richtigen Ton trifft. Begleitet von Trommeln, Flöte und einem australischen Didgeridoo erklingen im Karnevalstrubel die ältesten Stimmen der Region: Ein Panoptikum der brasilianischen Musik mit all ihren afrikanischen, europäischen und indigenen Elementen.

Stoffe der Straße

Am späten Abend des Aschermittwoch macht im malerischen Kolonialstädtchen Olinda bei Recife noch eine wilde Boi-Truppe Radau. Sänger, Tänzer, Trommler und Bläser feiern in einer dunklen Seitengasse eine Stierkampfposse, bei der ein kunterbuntes Stoffrind durch die Menge getrieben wird. Anführer der Truppe ist Helder Vasconcelos von Mestre Ambrósio, der zurzeit erfolgreichsten Neofolk-Band des Nordostens. Bald taucht auch Maciel Salus Gruppe Boi auf, bereit, sich einen Sangeswettstreit mit Helder und seinem Haufen zu liefern. Langsam aufeinander zu rückend, brüsten sich beide Seiten ihrer Heldentaten, um sich schließlich unter lautem Gejohle zu vereinigen und wieder auszuschwärmen. In dieser Nacht sind die Aktivisten der Roots-Szene unter sich, um der Tradition der Straße eine feuchtfröhliche Reverenz zu erweisen.

Die Konzerte der Band, die sich nach der Straßentheaterfigur Mestre Ambrósio benannt hat, sind eine unwiderstehliche Collage aus Rhythmen, Klängen, Geschichten und Bildern Pernambucos – folkig und wild, mit virtuosen Wechseln, artistischen Tanzeinlagen und energetischen Trancepassagen. Ein Konzept, wie es nur auf der Basis einer vielschichtigen Kulturlandschaft entstehen konnte – eben in Recife, wo die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte unzählbare Spuren hinterlassen haben, die nun von einer heterogenen Künstlerszene aufgegriffen werden.

Im Zuge ihres Erfolgs haben Mestre Ambrósio ihren Wohnsitz nach São Paolo verlegt, wo sie den Ruf der Provinzmetropole Recife im ganzen Land und in die Welt hinaus verbreiten. Auch andere Protagonisten der Recife-Szene versuchen ihr Glück heute in São Paolo. So wie Otto, vormals Percussionist von Chico Science, der seine Stücke im traditionellen Stil zum Schellentambourin Pandeiro komponiert, um sie anschließend elektronisch zu überarbeiten. Für sein Album „Samba pra Burro“, eine lässige Mixtur aus Party-Session und Sound-Design, wurde er in Brasilien mit Kritikerpreisen überhäuft. Auch er sieht sich als Erben des Mangue-Beat: „Die Ausgangslage war, dass wir in Recife zwar Informationen aus der ganzen Welt empfangen, aber unsere eigenen nicht weitergeben konnten“, erklärt Otto. „Heute ist die Situation eine andere. Die Kinder des Mangue-Beat haben ihre eigenen Kommunikationsmittel, sie sind selbstbewusster, hübscher und kreativer. Der Mangue-Beat hat Brasilien bereichert.“

Festivals mit Mestre Ambrósio: 25. 5 Berlin (TohuWABohu); 26. 5 Bielefeld (Weltnacht); 27. 5 Rotterdam (Dunya). Auswahldiscografie: Verschiedene: „Baião de Viramundo – Tribute to Luiz Gonzaga (Stern’s); Nação Zumbi: „Radio S.Amb.A“ (Stern’s). Import-CDs: Chico Science & Nação Zumbi: „CSNZ“ (Sony); Otto: „Samba Pra Burro“ (Trama); DjDolores: „A Máquina“ (candeeiro); Fethxa: „Cantando Com O Sol“ (Ciranda Records); Mestre Ambrósio: „Fuá Na Casa Do Cabral“ (Sony); Mestre Ambrósio: „Terceiro Samba“ (Sony)

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