Gabrielle Meton über eine Gedenktafel für Gabriele Tergit: Was bleibt und wer nicht
Fast hätte man sie übersehen. Eigentlich schauen die Moabiter, die an ihr vorbeigehen, nicht einmal hinauf. Dabei hängt die weiß-blaue Gedenktafel brandneu an der blassgelben Fassade des Hauses Siegmunds Hof 21 am Tiergarten.
„In dem einst links benachbarten Eckhaus wohnte von 1928 bis 1933 mit ihrer Familie Gabriele Tergit“, steht darauf. Die bekanntesten Werke der jüdischen Schriftstellerin: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ und die Trilogie „Effinger“. Keine Gedenktafel kann das bewegte Leben und Werk der Berliner Autorin des 20. Jahrhunderts auch nur annähernd erfassen. Gabriele Tergit, mit bürgerlichem Namen Elise Reifenberg, war die erste deutsche Gerichtsreporterin und eine der erfolgreichsten Autorinnen der Weimarer Republik.
Zum gleichen Zeitpunkt überfielen die Sturmabteilung (SA) ihr Haus, um die jüdische und NS-kritische Intellektuelle zu verhaften. Sie floh ins Exil nach Palästina und sollte nie wieder in Deutschland wohnen. Tergit bekräftigte ihre Liebe und ihren Respekt für das Judentum, dem Zionismus stand sie jedoch kritisch gegenüber. Sie sah darin einen „europäischen Eindringling“ und ein „hässliches Kolonialprojekt“. Von Tergits Leben in Tiergarten ist nicht mehr viel übrig. Auch die Nachbarn und die morgendlichen SpaziergängerInnen im Viertel können sich nicht mehr an sie erinnern. „Target … wie der amerikanische Supermarkt?“, rät ein Österreicher, der seine Freundin besucht. An der Stelle Tergits Eckhauses steht heute das HGHI-Hochhaus. Vor dem Neubau zieht eine Angestellte der in dem Gebäude ansässigen Immobilienfirma an ihrer E-Zigarette. Der Name sagt ihr etwas: Die Gabriele-Tergit-Promenade, nur wenige Straßen entfernt, ist sie manchmal entlanggelaufen. Aber mehr auch nicht. „Es sind die besten Menschen, die nicht viele Spuren hinterlassen“, kommentiert sie mit einem Lächeln.
Im benachbarten „Meerbaumhaus“, das heute von der jüdischen und der evangelischen Gemeinde genutzt wird, wird der 80. Todestag des evangelischen Pastors Dietrich Bonhoeffer gefeiert. Sind sich Bonhoeffer und Tergit vielleicht auf den Straßen Londons begegnet, wo sie beide 1940 vor dem Krieg geflohen waren? Bonhoeffer überlebte seine Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1943 nicht und wurde vom NS-Regime im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Tergit starb 1982 in London – als stolze Sekretärin des PEN, in ihrer Heimat jedoch längst vergessen. Zwei Jahre nach dem Hamas-Terrorangriff würdigt die Senatsverwaltung erneut die jüdische Autorin. Damit soll eine „Chronistin des Alltags, der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Milieus“ geehrt werden.
Durch das Fenster des blauen Meerbaumhauses ist eine Menora mit drei geschmolzenen Kerzen zu sehen. Vielleicht betrachtet Tergit das religiöse Objekt auch von dort oben. Und freut sich, dass es seine BesitzerInnen nicht mehr das Leben kostet.
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