GEW-Chef Klaus Bullan: "Die Gegner sind euphorisiert"
Trotz verlorenem Volksentscheid hält der Chef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Klaus Bullan, die "Schule für alle" nicht für erledigt. Die Mehrheit der Eltern sei dennoch für längeres gemeinsames Lernen.
taz: Herr Bullan, haben Sie noch Lust auf Schulpolitik?
Klaus Bullan: Na ja. Der Ausgang des Volksentscheids ist eine große Enttäuschung. Man darf sich davon aber nicht leiten lassen, weil es eine Weiterentwicklung der Schule geben muss. Ich glaube, die Frage der Ungerechtigkeit des gegliederten Schulsystems lässt sich nicht mehr zurückdrängen. Die Debatte ist eröffnet. In einer gerade in der FAZ publizierten Umfrage ist die Mehrheit der Eltern für längeres gemeinsames Lernen.
Wie kam es zur Niederlage?
Jene in den privilegierten Stadtteilen, die glaubten, etwas zu verlieren, haben sich rege beteiligt. Dagegen ist es nicht gelungen, die weniger privilegierten Stadtteile zu mobilisieren.
War das vorher abzusehen?
Auch bei Wahlen ist dort die Beteiligung sehr gering. Im Nachhinein muss man sagen, dass es keine realistische Chance gab, alle sozialen Milieus zu erreichen, die sich für längeres gemeinsames Lernen einsetzen würden. Wir haben immerhin viele Menschen aus der Mittelschicht erreicht, die offen sind für solche Gedanken.
Die Idee, das Volk zur Schulstruktur zu befragen, kam zuerst aus der GEW. War ihre Initiative "Schule für alle" ein Fehler?
Nein. Sie hat den Boden für die Auseinandersetzung um gerechte Schulstrukturen bereitet.
ist Berufsschullehrer und seit dem Jahr 2005 Vorsitzender des Hamburger Landesverbands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Aber jetzt bestimmt die Gymnasiallobby den Diskurs.
Das wird die Zeit zeigen. So wie wir derzeit deprimiert sind, sind die Reformgegner euphorisiert und können vor Kraft kaum laufen. Aber wenn Herr Scheuerl meint, er könne darüber entscheiden, ob Schulversuche noch möglich sind, irrt er.
Wie fänden Sie einen Schulversuch der Starterschulen?
Es wäre falsch, dies als Hebel zu benutzen, die Primarschule durch die Hintertür einzuführen. Das muss klar sein. Aber wenn einzelne Schulen Konzepte entwickeln und Eltern das wollen, spricht nichts dagegen.
Die SPD ist dagegen, weil das den Schulfrieden störe.
Solange es die ungleichen Bildungschancen und ungerechten Schulstrukturen gibt, kann es keinen Schulfrieden geben.
Es gibt neue Strukturen. Das Zwei-Säulen-Modell aus Stadtteilschule und Gymnasium.
Wir als GEW sind skeptisch, ob es damit gelingt, die soziale Selektion zu überwinden.
Ist die GEW weiter für die zehnjährige Schule für alle?
Selbstverständlich.
Wie setzen Sie das durch?
Vier Wochen nach dem verlorenen Volksentscheid ist nicht der Zeitpunkt für neue Lösungen. Wir werden Kräfte sammeln und versuchen, dem Ziel auf pragmatischem Weg näher zu kommen. Wir setzen uns dafür ein, die Stadtteilschulen stark zu machen. Auch an Gymnasien gibt es kein Sitzenbleiben und Abschulen mehr. Das ist auch im Sinne von nicht ausgrenzen. So wie die bundesweite Debatte läuft, gehe ich davon aus, dass die Strukturfrage nicht entschieden ist.
Senatorin Goetsch bleibt im Amt. Finden Sie das richtig?
Ja, weil sie eine hoch kompetente Fachfrau in Bildungsfragen ist, die gebraucht wird, wo gerade jenseits der Primarschule Strukturen verändert werden. Ich hätte es falsch gefunden, hätte sie sich da vom Acker gemacht.
Ist sie nicht in einer schwachen Position?
Die Gefahr ist da. Aber die Stärke der Gewinner des Volksentscheides wird sich mittelfristig relativieren, weil andere Fragen in den Fokus rücken.
Wie bewerten Sie Goetschs Krisenmanagement?
Da wurde viel öffentlicher Wirbel gemacht. Die Behörde muss nach Recht und Gesetz handeln und kann beispielsweise die Fusionen von Grundschulen nicht ad hoc zurücknehmen. Da müssen erst die Schulgremien drüber entscheiden. Aus Lehrersicht hat eine Fusion auch Vorteile. Beispielweise lässt sich Vertretung besser organisieren.
Ihre Erwartungen an Schwarz-Grün?
Es geht in der restlichen Legislatur darum, Lehrer zu motivieren, die jetzt begonnenen Veränderungen umzusetzen. Und dafür ist die Kürzung des Weihnachtsgeldes etwa so motivierend, wie es die Kita-Gebührenerhöhung für den Volksentscheid war.
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