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GANGSTER Misha Glenny hat die reportagenhafte Biografie des meistgesuchten Drogenbosses Brasiliens aufgeschrieben. Eine Geschichte voller AmbivalenzenSchnee in Rio

von Jens Uthoff

Es ist eine Trophäe, die die Beamten der brasilianischen Bundespolizei in der Nacht des 10. November 2011 am 15. Polizeirevier in Gávea, Rio de Janeiro aus dem Kofferraum eines schwarzen Toyota Corolla ziehen. Als sie die Klappe des Wagens öffnen, der in die Kontrolle gerauscht ist, blicken sie in ein Gesicht, das sie von sämtlichen Fahndungsplakaten des Landes kennen. Wie ein Embryo eingerollt liegt der meistgesuchte Drogenboss Brasiliens vor ihnen: Antônio Francisco Bonfim Lopes, besser bekannt als Nem aus Rocinha. Sie zerren ihn aus dem Auto seines Anwaltes. Niemand leistet Widerstand. Nem ist verhaftet.

Mit dieser überraschend unblutigen Polizeiaktion endet die Herrschaft jenes Nem über die Favela Rocinha in Rio de Janeiro, die mit geschätzten 120.000 Einwohnern die größte in Brasilien ist – und mit der Verhaftung beginnt das Buch des britischen Autors und Journalisten Misha Glenny, der dessen Biografie erzählt. Fünf Jahre lang hatte Nem zu diesem Zeitpunkt die Macht über das Viertel mit den vielen Wellblechhütten, aus dem sich Staat und Stadt zurückgezogen hatten. Eine im undurchsichtigen Bandenkrieg ungewöhnlich lange „Amtszeit“, die Glenny unter anderem dazu bewogen hat, Nems Geschichte zu erzählen.

Spinne oder Fliege?

In „Der König der Favelas“ nimmt Misha Glenny Nems Biografie als Folie, um mit ihr exemplarisch die Verankerungen des Drogenhandels in der brasilianischen Gesellschaft aufzuzeigen. Glenny erzählt eine klassische Aufsteigergeschichte im Drogenmilieu. Glenny, als Autor auf Drogen- und Netzkriminalität in Brasilien spezialisiert, hat als einziger Journalist Nem im Hochsicherheitsgefängnis Campo Grande interviewen können. Für das Buch griff er auf etwa 28 Stunden Gesprächsmaterial mit dem Don zurück. Drei Monate lebte der Brite in Rocinha, er sprach mit Anwohnern, mit Bandenmitgliedern, Politikern und Polizisten. Seine Leitfrage: Ist Nem für das Drogennetz „die Spinne oder die Fliege?“

Ende der 90er gründen sich die Amigos dos Amigos, denen Nem vorsteht

Zum Drogenhandel kommt der in Rocinha aufgewachsene Nem wie die Jungfrau zum Kind, so wie Glenny es schildert. Ini­tia­les Ereignis ist eine seltene Erkrankung seiner 1999 geborenen Tochter im Kleinkindalter. Nem, damals noch unbescholtenem Angestellten einer Firma, fehlt das Geld für die Behandlung – so bittet er den allseits bekannten und in der Bevölkerung beliebten Drogenbaron Lulu um Unterstützung. Daraus entsteht eine Freundschaft – und Nems langsamer, aber stetiger Aufstieg unter Lulu nimmt seinen Lauf. Als Lulu 2004 von einer Spezialeinheit getötet wird, beginnt eine kurze Zeit des Interregnums, ehe Nem die Macht übernimmt.

Während er vom Aufstieg und Fall des Don Nem erzählt, greift Glenny immer wieder in die Geschichte des brasilianischen Drogenhandels zurück. So lässt sich gut nachvollziehen, in welche Epochen sich dieser gliederte, nachdem Mitte der Achtziger der Kokainhandel zunahm und „1984 der Schnee in Rio zu fallen begann“. Es ist die Zeit, als die Militärdiktatur endet (1985) und mit Dênis da Rocinha, der ein wahrhaft gutes Näschen hat, die Herrschaft der Drogenbosse über das Viertel beginnt.

Dass der Koka-Handel alles andere als ein Spiel ist, wird spätestens Ende der Achtziger klar, als die Mordrate in Rio sich mehr als verdreifacht hat. In den Neunzigern steigert sie sich noch, Mitte der Neunziger liegt sie bei 70,6 pro 100.000 Einwohner und Jahr. Auch Rocinha trägt dazu bei, die verschiedenen Banden kämpfen eine gesamte Dekade um die Macht. Ende der Neunziger gründen sich die Amigos dos Amigos (ADA), denen Nem am Ende vorsteht. Sie konkurrieren mit dem Roten Kommando, einer der ältesten Organisationen, und dem Dritten Kommando. Erst in den nuller Jahren, als die Machtverhältnisse unter Lulu und Nem geklärt sind, geht die Kriminalität zurück.

Die alleinige Macht nimmt Nem etwa 2006 ein. Glenny beschreibt diese Zeit wie ein an­tikes Drama. Rocinha blüht zunächst unter seiner Ägide auf, wird fast zum hippen Stadtteil. Polizei und Behörden zu schmieren gelingt problemlos. Ähnlich wie sein Ziehvater Lulu gilt er als „guter“ Don. Nach und nach aber befrieden die Polizeieinheiten die Favelas in Rio – auch weil die sportlichen Großereignisse Fußball-WM (2014) und Olympia 2016 näher rücken.

Nem wird nun zum Staatsfeind Nummer eins, nach einer von den ADA verantworteten Geiselnahme mit einer Toten zieht sich die Schlinge zu. Am Tag seiner Verhaftung ist Rocinha umstellt. Ob Nem am Ende fliehen, sich stellen wollte oder er seine Verhaftung inszeniert hat, kann Glenny (noch) nicht klären.

„Der König der Favelas“ ist eine thrillerartig, zuweilen literarisch gut geschriebene Biografie, die die Situation in den brasilianischen Favelas in den vergangenen dreißig Jahren beschreibt. Glenny spart nicht aus, dass nach der sogenannten Pazifikation der Viertel zunächst ein Zustand der Instabilität eintritt und dass die jeweiligen Polizeieinheiten und Militärs nicht minder um Macht und Geld konkurrieren. Unklar bleibt, was mit dem angeblich vorgetäuschten Tod Nems im Jahr 2010 ist, der im Buch keine Rolle spielt.

Großartig, wie Glenny diese Biografie mit all ihren Widersprüchen erzählt – allerdings bringt er am Ende fast etwas zu viel Sympathie für Nem auf. Dass der weder nur Spinne noch nur Fliege ist, hat man da längst verstanden.

Misha Glenny: „Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption“. Tropen Verlag, Stuttgart 2016, 409 Seiten, 22,95 Euro

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