Futurist zu "Augmented Reality": "Gläserne Menschen für alle"

Der Futurist Max Celko sieht in "Augmented Reality" (AR) eine Welt, in der das Netz mit der Offline-Welt verschmilzt. Suchmaschinen können schon heute Menschen und Dinge erkennen. Und dann noch: Cybersex.

Spielerisch genutzt: Augmented Reality Flashmob am 24.4.2010 in Amsterdam. Bild: sndrv – Lizenz: CC-BY

taz: Virtuelle und reale Welt verschmelzen allmählich. Freuen Sie sich auf diese Zukunft?

Max Celko: Ja klar, das wird spannend. Die Menschheit und die Technik entwickeln sich doch in eine gute Richtung.

In einem möglichen Szenario kann man in der Augmented Reality künftig Kommentare zu wildfremden Menschen schreiben, die man auf der Straße sieht. Der Nächste bekommt sie dann auf seinem Handy eingeblendet. Dann taggen mich fremde Leute mit „doof“ und jeder kann es lesen?

Das ist doch schon jetzt so. Auf Facebook können Sie auch schreiben, dass ich doof sei. Künftig sind die Kommentare eben virtuell direkt an den Körper geheftet und wer es will, kann sich alles aus dem Netz anzeigen lassen und mit ihnen verknüpft lesen. Das selbe System wird einfach in eine neue Dimension übertragen.

Niemand muss auf Facebook ein Konto eröffnen. Künftig allerdings könnte im öffentlichen Raum jeder ein kommentierbares Objekt sein, ohne eigene Kontrolle.

Es wird sicherlich möglich sein, dass sie Tags über sich wieder löschen oder irgendwie kontrollieren können. Vielleicht können Sie sich dem auch ganz entziehen. Aber der soziale Druck, die neuen Technik zu nutzen, wird genauso hoch sein, wie heute ein Handy zu haben oder E-Mails zu schreiben.

Der Futurist Max Celko, 33, studierte Medienwissenschaften an der HFF Potsdam-Babelsberg. Er untersucht neue Trends in Technik und Medien und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft. Er hat an den Markenstrategien zahlreicher Unternehmen mitgearbeitet und publiziert regelmäßig zu dem Thema. Er lebt in New York, Zürich und Berlin.

Man steht vor einer netten, alten Kirche und will wissen, was Wikipedia dazu weiß. Also einfach Handy raus, filmen und schon blendet das Display alles dazu ein. Ähnliches ist künftig auch mit Menschen möglich: Bilddatenbanken im Netz suchen nach den Menschen, die man gerade im Visier der Handykamera hat - dann wird zum Beispiel die Facebook-Seite mit dem gleichen Menschen auf dem Profilbild angezeigt.

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Das Konzept dahinter nennt sich "Augmented Reality" (AR). Virtuelle und reale Welt werden überlagert und auf einem Display angezeigt – etwa im Handy. Der Futurist Max Celko vermutet, dass sich spezielle Brillen oder gar Kontaktlinsen durchsetzen könnten: Eine eingebaute Minikamera filmt ständig die Umgebung. Die Bilder werden im Internet live mit Software zur Bilderkennung ausgewertet. Die Position ist über die Funkzelle des Handys ungefähr oder GPS exakt bekannt, was die Arbeit extrem erleichtert – denn in den Datenbanken der Suchmaschinen wird jeder Information über die Welt mit einer Ortsmarke versehen. In der Brille erscheint dann Namen von Personen, Straßen, vielleicht auch virtuelle Kunst, die jemand hinterlassen hat. Das alles wird mit den live-Bildern der echten Welt zu einer neuen Realität überlagert. Dazu könnte jeder zusätzliche Informationen oder Kommentare in der Welt hinterlassen.

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Analysten der britischen Juniper Research erwarten bis ins Jahr 2014 350 Millionen AR-Fähige mobile Endgeräte und einen Umsatz von einer dreiviertel Milliarde Dollar in der Branche. 2010 werden es gerade mal zwei Millionen Dollar sein.

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Wie stark AR wachsen wird und welche Anwendungen populär werden, darüber kann man momentan nur spekulieren. Die Zeitschrift „The Economist“ schrieb im Jahr 2009: „Sich heute vorzustellen, wie Augmented Reality benutzt werden wird, ist wie im Jahr 1994 die Zukunft des Internet zu prognostizieren.“

Hören wir mal auf zu spekulieren, wie weit ist die Technik?

Für Handys gibt es bereit gut entwickelte Anwendungen wie der Browser Layar: Sie filmen die Umgebung und auf dem Bildschirm blendet das Programm Informationen darüber ein. Manche Anwendungen sind sehr praktisch, wie Wikitude: Man fokussiert ein Objekt mit der Kamera im Handy und bekommt einen Link zu Wikipedia, falls es dort Informationen dazu gibt. Aber niemand rennt den ganzen Tag mit ausgestreckter Hand herum und schaut auf sein Display. Die Zukunft gehört Brillen mit eingebauten Bildschirmen. Als Zukunftsvision sind auch Augmented Reality Kontaktlinsen denkbar.

Ist es technisch möglich mit meiner Handykamera Menschen zu filmen, die anhand von Bildern im Internet identifiziert werden? Trotz neuer Frisur oder Bart?

Das Programm Augmented ID zum Beispiel funktioniert bereits relativ gut, sobald sie in einem Raum sind und nicht zu weit entfernt von einer Person.

Muss hier nicht dringend eine Reglementierung zum Schutz der Privatsphäre her?

Das wird nicht funktionieren, das wissen Sie doch. So war es bisher immer. Außerdem können Sie jetzt schon jeden Namen googeln. Bei Gesichter wird es genauso sein.

Müssen wir Privatsphäre aufgeben?

Was Privatsphäre noch bedeutet, ist ein zentrales Thema. Brauchen wir Privatsphäre in Zukunft überhaupt noch? In welcher Form? Der Begriff muss sicher neu definiert werden. Vielleicht werden wir künftig in der Öffentlichkeit für jedermann gläserne Menschen sein. Auf jeden Fall werden wir weniger privat sein, je weiter die Technik fortschreitet. Die Entwicklung kann niemand aufhalten.

Wo sind wir denn in 10 Jahren?

Die Handy-basierten Systeme werden weit verbreitet sein. Auch AR-Brillen werden in räumlich begrenzten Gebieten Anwendung finden. Orientierung wird die wichtigste Anwendung sein, etwa virtuelle Wegweiser oder Zusatzinfos an Bushaltestellen oder Gebäuden. Dazu kommt natürlich der Unterhaltungseffekt - etwa in Form von AR-Spielen, kombiniert mit den Funktionen aus sozialen Netzwerken.

Und Cybersex?

Sex-Anwendungen liegen auf der Hand. Statt Bilder werden sie eine virtuelle Person in ihrer Wohnung sehen. Berühren können Sie die nicht, aber die Illusion wird größer.

Mal ehrlich, die Menschen werden durchdrehen und Ruhe einfordern.

Das kann schon sein. Aber durch Technik können wir auch eine neue Form der Spiritualität erlangen. Im sogenannten Biofeedback misst man schon heute Emotionen in Form von Hautwiderstand, Puls oder Gehirnströmen. Einige Leute nutze das beim Joga, da werden dann Gehirnströme je nach Meditationszustand visualisiert. Man muss das eben vernetzen.

Das Ende der Privatsphäre und Online-Religiosität klingen eher zum Fürchten, woher ihr Optimismus?

Jetzt denken Sie doch mal an die positiven Effekte! Im Internet haben sie heute Interessengemeinschaften, die sich dort in einer grenzenlosen Form vernetzen. Künftig wird es Wahrnehmungsgemeinschaften geben. Wenn Sie heute ein Punk sind, dann kleiden Sie sich wie ein Punk. Als Businessmensch wie ein Businessmensch. Menschen mit gleichen Interessen werden künftig zusätzlich die Umwelt gleich wahrnehmen.

Sie glauben, Punks werden AR-Brillen aufziehen?

Klar. Die haben sich doch auch Handys gekauft.

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