Futurismus-Ausstellung in Belgien: Küche à la Schmalzigaug
Variationen von Licht, Bewegung und grellen Farben: Das Mu.Zee in Ostende präsentiert flämische Größen des avantgardistischen Pinselstrichs.
Dieses Licht! Ein wunderschöner, fast schon greller Wintertag an der Küste. Keine Wolke und kaum Wind im westlichsten Zipfel Belgiens. Ostende strahlt – beziehungsweise Oostende an Zee, wie es auf Flämisch heißt. Entsprechend heißt der Ort der Schau auch Museum aan Zee, abgekürzt Mu.Zee; es ist lokal orientiert und zeigt dabei doch europäische Kunstgeschichte.
Mu.Zee-Führerin Leen, eine lebhafte Mittsechzigerin, spricht fast ohne Pause. Ja, auch vom Licht, natürlich – aber erst geht es um fragmentierten Dynamismus, um Dadaismus, Avantgarde, den Futurismus und Kubo-Futurismus, der Anklänge des Kubismus einschließt. Sie spricht vom flämischen Maler Jules Schmalzigaug (1883–1917). Seine wichtigsten Werke sind hier unter dem Titel „Das Kochbuch des Futurismus“ zu sehen.
Am Herd also: Jules Schmalzigaug. Die Ingredienzen seiner Experimentierküche: Rhythmik von Tänzerinnen, Bewegungen eines stilisierten Mopeds, die ausgelassene Dynamik von Ballsälen, pulsierende Plätze mit Kirchenfragmenten in der Sonne. Schmalzigaugs Gewürze: à la carte verwendete Variationen von Licht, Bewegung und immer viele grelle, bunte Farben. Der Sohn einer wohlhabenden Familie aus Antwerpen reiste mehrfach nach Venedig, geriet in den Bann der leuchtenden Stadt und lernte dort Seelenverwandte kennen, vor allem den Futurismus-Pionier Filippo Tommaso Marinetti. Man wandte sich gegen alles Gewohnte, das Bürgertum, die Normen.
Und Schluss mit der herkömmlichen Malerei! Bildmotive wurden jetzt zerlegt und experimentell umgebaut; Hauptsache, weg mit visuellen Üblichkeiten, hieß die Vision. „Eine Figur“, schrieb Schmalzigaug begeistert an seinen Bruder, „ist nicht länger eine Figur, sie besteht nur aus Fragmenten, die ihrerseits durch andere Fragmente durchkreuzt und undeutlich gemacht werden …“
Begeistert von italienischen Freigeistern
Schmalzigaug rührte auf seinen Bildern die Welt um, war begeistert von den italienischen Freigeistern und die von ihm: Dieser junge Belgier mit dem seltsam futuristischen Namen malte ja schon, worüber man gerade zu diskutieren begonnen hatte. So wurde der junge Schmalzigaug zum ersten belgischen Maler, der sich in der internationalen Avantgardeszene etablieren konnte. Eine Fachzeitschrift feierte ihn für seine „Rhythmen farbiger Arabesken“.
Neben Schmalzigaugs Arbeiten sind im Mu.Zee auch Bilder anderer Futuristen zu sehen und von Zeitgenossen des Futurismus. Etwa Werke des Boheme-Rebellen James Ensor, Sohn Ostendes, der zu Schmalzigaugs Hochphase um 1913/14 längst ein Etablierter unter den Nichtetablierten war. Ensor (1860–1949) begann als 15-Jähriger in Ostendes Dünen zu malen („immer auf der Suche nach dem Licht“) und galt bald, erläutert Leen, als Prä-Expressionist, weil es zu seiner Zeit den Expressionismus noch nicht gab.
Der andere der „zwei großen Meister aus Ostende“ war der junge Léon Spilliaert (1881–1946). Nicht eben eine Lichtgestalt, denn seine Bilder sind bisweilen überaus düster. Leen steht vor einem fast monochrom schwarzen Gemälde, auf dem sich so gerade noch eine Horizontlinie erahnen lässt. Das Ostender Meer bei Nacht, gemalt als Teenie. „Wenn mein Sohn mit 18 so was malen würde, würde ich wohl mit ihm zum Psychiater gehen“, sagt die Museumsführerin ironisch.
Mit Albert Einstein beim Bier
Ensors wundervoll böses Monumentalwerk „Der Einzug Christi in Brüssel“ mit Jesus als Hauptfigur eines grotesken Karnevalsumzugs hängt heute im Getty-Museum in Los Angeles, im Mu.Zee ist eine Kopie als 1:1-Tuch aufgespannt. Ensor selbst, beißender Kritiker des Bürgertums und wüster Anarchist, ist im Mu.Zee zudem auf einer anrührenden zeitgenössischen Fotografie von 1933 zu sehen – mit Albert Einstein beim Bier in einem Garten im Nachbarort De Haan. Dorthin war Einstein vor den Nazis geflüchtet, bevor er in die USA emigrierte.
„Jules Schmalzigaug et la cuisine futuriste“ / „Jules Schmalzigaug en het kookboek van het futurisme“; bis 5. März, Mu.Zee Ostende
Ostende mit seinen gerade mal 70.000 Einwohnern ist bis heute ein Hotspot für avantgardistische Künstler: Der Cartoonist Kamagurka (der auch für die taz-Wahrheit malt) ist hier geboren, dazu der in Belgien bekannte Dadaist Peter Van Heirsele alias „Herr Seele“. In einem Park steht heute eine Ensor-Büste. Darunter auf Lateinisch sein Lebensmotto: Pro luce nobilis sum. Durch das Licht bin ich berühmt geworden. Die Sonne gibt jetzt in Ostende tatsächlich noch einmal alles, abends sind die Konturen noch schärfer und winters ist es 50 Minuten länger hell als etwa in Berlin. Danach erst kommt Spilliaerts Nachtzeit.
Im Dunkel endete auch Jules Schmalzigaugs Leben. Bei Kriegsausbruch 1914 flüchtete er in die neutralen Niederlande. Hier endete die Wertschätzung abrupt. Er entwickelte in Den Haag noch eine eigene Farbenlehre, „La Panchromie“, wollte Töne, Lärm und am liebsten auch Gerüche malen, schließlich „Farbmusikkonzerte komponieren“, alles ohne nennenswerten Widerhall. Der eben noch Bewunderte war plötzlich einsam, isoliert. Am 13. Mai 1917, gerade 33 Jahre alt, nahm sich Jules Schmalzigaug in seinem Atelier das Leben.
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