Fußball nach dem Krieg: Warten auf das große Wow
Der ukrainische Fußball ist immer noch in den Fängen der Oligarchen. Die Zuschauerzahlen sinken seit Jahren. Ein Manager träumt von der großen Show.
Doch Milliardäre wie Rinat Achmetow, Ihor Kolomojskyj, die Brüder Hryhorij und Ihor Surkis, Jewgenij Geller, Oleksandr Jaroslawskyj und Petro Dyminskyj haben sich den neuen Bedingungen schnell angepasst. Besagte Geschäftsleute hatten seit langer Zeit eine Art Wettrüsten im ukrainischen Fußball veranstaltet. Bei Dynamo Kiew, Schachtar, SK Dnipro und Metalist Charkiw spielten teure Legionäre, die später an die besten Klubs in Europa weiterverkauft wurden.
Die deutsche 50+1-Regel, die den Einfluss eines Besitzers auf seinen Klub beschränkt, galt in der Ukraine als undenkbar. Sowohl die Behörden als auch die Fans ermutigten Großunternehmer regelrecht, Klubs in ihre Obhut zu nehmen. Sie ignorierten, wie sehr sich dabei die Mannschaften in die vollständige Abhängigkeit der Investoren mit ihren Säcken voller Geld begaben. Ein paar Klubs verschwanden nach 2014 von der Fußball-Landkarte der Ukraine. Ihre Besitzer konnten wegen des Krieges und des Beginns der Reformen kein Geld mehr für den Fußball ausgeben.
Aber auch unter der neuen Regierung behielten die Oligarchen ihren Einfluss auf den Fußball. Ihr Schützling Andrij Pawelko stand an der Spitze des Fußballverbandes der Ukraine und festigte schnell seinen Einfluss. Bald war es für die Opposition im Verband so gut wie unmöglich, ihn aus dem Amt zu entfernen.
Pawelko ist ein Kumpel von Aleksander Čeferin, dem Präsidenten der Europäischen Fußballunion Uefa. Er wurde sogar ins Uefa-Exekutivkomitee gewählt. Auf Pawelkos Initiative ist der legendäre Andrij Schewtschenko, 2004 Europas Fußballer des Jahres, Cheftrainer der Nationalmannschaft geworden. Die beiden sind best friends und Schewtschenko ist der Taufpate eines der Kinder von Pawelko.
Zeit der Erfolge
Es stellten sich Erfolge ein. Die Auswahl erreichte das Viertelfinale der Europameisterschaft 2021. Und die U20 wurde 2019 gar Weltmeister. Dass 2018 das Finale der Champions League in Kiew ausgetragen wurde, gehört ebenfalls zu den Erfolgen dieser Jahre, für die sich Pawelko nur allzu gern auf die Schulter klopfen ließ.
Nun behaupten unabhängige Sportbeobachter, Pawelko habe die ersten Kriegsmonate vor allem dazu genutzt, PR in eigener Sache zu machen. Er reist durch die Ukraine – angeblich, um Verteilungszentren für ausländische humanitäre Hilfe zu inspizieren. Unverzichtbares Ergebnis seiner Reisen: ein Foto mit dem Militär, das zeigt, wie er im Visier von Kanonen vor laufenden Fernsehkameras Kisten mit Hilfsmitteln auslädt, oder eines, für das er in einer schusssicheren Weste mit zerstörten Häusern im Hintergrund posiert.
Derweil denken die Fußball-Verantwortlichen darüber nach, wie sie zumindest in der Premjer-Liha die Meisterschaft neu starten können und woher sie das Geld dafür bekommen könnten. So könnte man bei der Uefa oder dem Weltverband Fifa um Zuschüsse ersuchen. Man wollte im Ausland spielen – in der Türkei oder in Polen. Aber Staatspräsident Wolodimir Selenski sprach sich dafür aus, die Meisterschaft in der Ukraine auszutragen.
Aber auch ganz andere Meinungen werden diskutiert: Strategisches Denken ist da gefragt. Solange die heiße Phase des Krieges andauert, ist Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, in welche Richtung sich der Fußball in der Ukraine entwickeln soll. Schließlich hatte sich der Fußball seit der Revolution der Würde kaum verändert.
Fehlendes Geschäftsmodell
Wie schon 2014 ist er immer noch massiv vom Geld eines kleinen Kreises von Leuten abhängig. Nach wie vor gibt es keinen einzigen TV-Deal, mit dem sich effektiv Geld verdienen ließe. Und überhaupt fehlt ein Geschäftsmodell, um junge Talente an die heimische Premjer-Liha heranzuführen und sie bis zu einem Verkauf ins Ausland zu fördern. Die Liga selbst hat es seit drei Jahren nicht geschafft, einen Vorsitzenden zu wählen – sie wird vom Streit und den Ambitionen der Klubpräsidenten regelrecht zerrieben.
Dass die Zahl der Profiklubs in der Ukraine gewachsen ist, liegt einzig an den sogenannten Dorfklubs, die von der in den Vorkriegsjahren so profitablen Agrarindustrie finanziert wurden. Auch sonst hat sich wenig getan: Gute Fußballplätze sind Mangelware, die meisten Klubs verfügen über keine nennenswerte ökonomische Basis, schon im Kinder- und Jugendfußball gibt es korrupte Strukturen. Ideen, die Einnahmen der Klubs zu steigern, gibt es kaum. Darüber hinaus lässt die Kommunikation mit den Fans zu wünschen übrig. Das Ergebnis: ein katastrophaler Rückgang der Besucherzahlen und der Qualität der Spiele.
Verbandsfunktionäre und Klubbesitzer, die am Ball bleiben und weiter Geld in den Fußball investieren wollen, stehen vor einer großen Frage: Wie kann man das Interesse an einer Meisterschaft wachhalten, deren Qualität sich zusehends verschlechtert? Neben den Legionären werden auch die besten ukrainischen Spieler ins Ausland wechseln, und die Nachwuchsabteilungen werden es nicht schaffen, eine ausreichende Anzahl qualitativ hochwertiger junger Kicker hervorzubringen.
Kameras in die Kabinen
Maxim Motin, Manager des Erstligisten Ruch Lwiw meint, man solle aus dem Fußball ein hochwertiges Showprodukt machen. Der Moskauer Motin hat viele Jahre bei russischen Klubs gearbeitet und ist als politisch Verfolgter in die Ukraine gekommen. Er ist überzeugt: Solange der Krieg andauert und die Meisterschaft pausiert, sollte darüber nachgedacht werden, wie die Liga interessant gemacht werden könne – mithilfe von Marketingtechniken und maximaler Transparenz.
„Den ‚Wow-Effekt‘ für die Fans erzeugen die Medien“, meint er und denkt an Kameras in den Umkleidekabinen, an Übertragungen vom Moment, in dem der Trainer den Spielern die Aufstellung ansagt. Es sollte Interviews in der Halbzeitpause und während des Spiels geben, Dutzende von GoPro-Kameras sollen zum Einsatz kommen. „Wir sollten sogar die Schiedsrichter reden hören, warum nicht?“, sinniert Motin. Gut möglich, dass der ukrainische Fußball dafür zu konservativ ist. Trainer der alten Schule würden nie Kameras in der Kabine dulden.
Doch auch hier hat Motin eine Idee. Er will die Vereine mithilfe eines Bonussystems zum Umdenken bewegen. Die Hälfte der Prämie soll nach dem Platz in der Tabelle ausgezahlt werden, der andere Teil für die Qualität des Marketings, für eine Show bei den Spielen. „Das alles könnte den Fußball für junge Leute wieder interessant machen. Die langweilt es, 90 Minuten einfach nur das Spiel anzuschauen, wenn ein Video auf Tiktok nur 15 Sekunden dauert“, sagt Motin. „Es werden junge Leute kommen, die nach neuen Regeln im ukrainischen Fußball arbeiten können, junge Fachleute, die offen für das Publikum und lernfähig sind.“
Aber zuerst muss es in der Ukraine Frieden geben. Dann werden die Fans wieder lernen, Spaß an Unterhaltung zu haben. Eine solche ist Fußball ja auch.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland