Fußball in Spanien: Das System Rubiales
Noch ist Luis Rubiales im Amt. An Widersachern im spanischen Fußball mangelt es nicht. Aber denen sind die Übergriffe gleichgültig. Die wollen bloß die Macht.
Wenn heute eine internationale Umfrage gestartet würde, ob mehr Menschen den Ministerpräsidenten Spaniens kennen oder seinen Fußballpräsidenten, dann gewönne wahrscheinlich Letzterer, obwohl Luis Rubiales gar nicht mehr im Amt ist, seit ihn die Fifa für drei Monate suspendiert hat. Die Schlagzeilen dominiert er, auch wenn er gar nicht namentlich genannt werden muss.
„Wir wissen ja um die Vorgänge beim spanischen Team“, sagte etwa Englands Coach Sarina Wiegman, als sie am Donnerstagabend zur europäischen Trainerin des Jahres ernannt wurde, und widmete die Auszeichnung ihren WM-Finalbezwingerinnen: „Es tut mir sehr weh, als Coach, als Mutter zweier Töchter, als Ehefrau und als Mensch.“ Spaniens Aitana Bonmatí, als beste Spielerin des Jahres geehrt, erklärte, Machtmissbrauch und Respektlosigkeiten gegenüber Frauen müssten ein Ende haben, die Gesellschaft solle weiter an sich arbeiten. Aitana räumte ein: „Es sind keine guten Tage für den spanischen Fußball.“
Und das alles wegen eines Kusses.
Hätte Rubiales an sich gehalten, dann könnte er sich jetzt als größter Verbandspräsident aller Zeiten feiern lassen. Spanien hat diese Saison so ziemlich alles abgeräumt, was man nur abräumen kann. Bei den Frauen hält es alle Weltmeistertitel, U17, U20 und A-Bereich. Die Männer gewannen die Nations League. Dem Land werden gute Chancen eingeräumt, federführend mit Portugal und Marokko die WM 2030 auszurichten. Vielleicht muss man besser sagen: Spanien wurden gute Chancen eingeräumt. Bis zu diesem Kuss auf den Mund von Jenni Hermoso.
Juan Rubiales über seinen Neffen, den Verbandspräsidenten Luis Rubiales
Hätte er ihn unterlassen, wäre Rubiales mit seinem übrigen Verhalten sicher irgendwie durchgekommen. Mit seinem vulgären Griff in den Schritt auf der Ehrentribüne. Mit seinen durchweg übertriebenen bis übergriffigen Liebkosungen der übrigen Weltmeisterinnen. Mit seinen Anzüglichkeiten gegenüber Untergebenen, angezeigt schon 2017 von der ehemaligen Marketingdirektorin der Spielergewerkschaft AFE, die er früher präsidierte. Mit Orgien auf Verbandskosten, die sein Onkel und Ex-Kabinettschef Juan Rubiales voriges Jahr bei der Staatsanwaltschaft denunzierte. Mit dem Verkauf des spanischen Supercups an den Folterstaat Saudi-Arabien. Mit allem, was längst über ihn kursierte, aber kaum jemanden interessierte. Bis zu diesem Kuss.
Die symbolische Wucht der Szene war so enorm, dass seither von einem „MeToo“ des Fußballs gesprochen wird. Im Social-Media-Zeitalter kann ein kurzer Clip die ganze Welt durchschütteln, aus einem zuvor weithin unbekannten Funktionär den Paria des Planeten machen. Eine 70-jährige wie Rubiales’ Mutter musste das fast schon so erschrecken, dass sie sich aus Protest in einer Kirche isolierte. Rubiales selbst aber hätte ihr den mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen abgebrochenen Hungerstreik ersparen können. Er hätte, wäre er nicht so geblendet von sich selbst, so „besessen von Geld, Sex und Macht“ (sein Onkel Juan), zurücktreten können, ob mit aufrichtiger Entschuldigung oder nicht – und bald hätte keiner mehr von ihm geredet.
„Opfer von falschem Feminismus“
Aber der einstige Erstligaverteidiger will nicht verschwinden. Dabei nutzt ihm sein Versuch, sich zum „Opfer von falschem Feminismus“ zu stilisieren und so den Kulturkampfknopf zu drücken, reichlich wenig. Zwar stieg die rechtspopulistische Vox nach langem Schweigen zu Fall jetzt auf seine Argumentation ein und beklagte eine „politische und mediale Treibjagd“ gegen Rubiales.
Doch schon weil sich sein Genitalgriff in unmittelbarer Nähe zu Königin Letizia ereignete, halten ihn auch die Konservativen für eine untragbare Peinlichkeit. Sie nutzen die Affäre vielmehr, um der sozialistischen Regierung ihre jahrelange Toleranz gegenüber Rubiales’ Skandalen vorzuhalten. Doch die hat nach dem Kuss sofort umgeschaltet und nutzt den Kampf gegen den Fußballlüstling jetzt für ihre progressive Agenda. Wird Rubiales nicht von der Fifa endgültig erledigt, wird es das Amtsenthebungsverfahren vor dem spanischen Sportgerichtshof TAD tun oder letztlich der Verband selbst.
Dennoch ist der Fall Rubiales ein spanisches Vorzeigestück par excellence. Das gilt für die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem beim Thema Frauenbewegung: Einer emanzipierten Gesellschaft und einer modernen Politik steht eine immer noch überdominant männliche – und oft genug machistische – Elite in Unternehmen und Verbänden gegenüber. Es gilt aber auch für die Manipulationen, PR-Kämpfe und Verschwörungstheorien.
Dass der Verband anfangs Jennifer Hermoso gefälschte Zitate in den Mund legte („Es war eine bloße Geste der Freundschaft und Dankbarkeit“), wäre anderswo kaum ein geringerer Skandal als der Kuss an sich.
Doch in Spanien wird diese Episode eher wenig thematisiert – zu gewöhnt ist man offenbar schon an solche Praktiken. Die Rede ist von einem Land, in dem eine Regierung (der konservativen PP) 2004 sogar über die Urheberschaft eines islamistischen Attentats mit 193 Toten log, weil sie sich von der Schuldzuweisung an die baskische ETA mehr Wählerstimmen versprach. Alle Mittel gelten als erlaubt, kein Zynismus als zu zynisch, um die eigene Erzählung zu verkaufen.
Denn Spanien ist außerdem ein Land mit bipolarer Tradition. Verhängnisvoll wie nie äußerte sie sich im Bürgerkrieg (1936–39), macht aber Koalitionen und Kompromisse über die politische Mitte hinweg bis heute unmöglich – und zeigt sich auch im nationalen Fußball. Der Gegensatz zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona ist quasi dessen Geschäftsgrundlage.
Noch größer war in den letzten Jahren aber der geradezu paranoide Konflikt zwischen Verband und Liga, zwischen Rubiales und Javier Tebas. Die ehemalige Sportbeauftragte der Regierung, Irene Lozano, verfolgte mit Entsetzen, wie die beiden Alphatiere aufeinander losgingen, als sie für die Wiederaufnahme des Spielbetriebs während der Pandemie vermitteln wollte. Beider Kraftausdrücke und Verhaltensweisen muteten Lozano vorsteinzeitlich an. Sie schmiss Rubiales wegen seiner Beleidigungen sogar einmal aus ihrem Büro.
Dennoch stützte die Regierung den umstrittenen Funktionär. Er verkaufte sich als Garant für eine erfolgreiche WM-Bewerbung und als politisch affiner im Vergleich zu Ligapräsident Tebas – einem bekennenden Sympathisanten von Vox, der nach dem Ende der Franco-Diktatur gar Mitglied der faschistischen Fuerza Nueva war, aus deren Umfeld heraus terroristische Attentate verübt wurden. Distanziert von dieser Vergangenheit hat er sich nie, „bei den meisten Themen denke ich immer noch gleich“, sagte er 2016, bereits im Amt von La Liga.
Einschüchterung, Diffamierung, Ignoranz
Anderswo mag man sich schwer vorstellen können, dass ein Mann mit einem solchen Weltbild in dieser Funktion ist. In Spanien wird es nicht einmal problematisiert, wenn wie in der vergangenen Saison ein Spieler wie Reals Brasilianer Vinícius die Liga wegen zu laschem Vorgehen gegen Rassismus anklagt. Der Fußball hier ist nichts für schwache Gemüter, es wird hier nie mit zu weichen Bandagen gekämpft. Kritiker werden eingeschüchtert, sympathisierende Medienkanäle erfunden, von der Bearbeitung der Schiedsrichter gar nicht erst zu sprechen.
Die Enthüllungen dieses Jahres über eine jahrzehntelange Bezahlung des spanischen Schiedsrichterfunktionärs durch den FC Barcelona zeichnete insofern ein unmissverständliches Sittengemälde. Real wiederum hat es sich über die Jahre zur Angewohnheit gemacht, unliebsamen Referees oder Journalisten das Leben unmöglich zu machen.
Auch die Klubs werden von geltungsbewussten Männern regiert, vom mächtigen Spitzenunternehmer Florentino Pérez die Madrilenen, vom impulsiven Anwalt Joan Laporta die Katalanen. Beim dritten Spitzenverein Atlético Madrid sieht es nicht anders aus, dort herrscht ein Tandem aus Geschäftsführer Miguel Ángel Gil Marín – Sohn des berüchtigten Macho-Populisten Jesús Gil – und Filmproduzent Enrique Cerezo. Bezüglich Letzterem erinnerte die Journalistin Berta Collado dieser Tage daran, wie er ihr vor Jahren live auf Sendung auf die Frage nach Parallelen zwischen Fußball und Stierkampf antwortete: „In diesen zwei Dingen, die du da hast, den Hörnchen.“
Die Verbandsgeschäfte führt nun fürs Erste Pedro Rocha, ein vormaliger Rubiales-Vize. Bei den nächsten Wahlen 2024 will er laut eigener Aussage nicht antreten. Dafür wird gemunkelt, dass Javier Tebas einen Kandidaten in Stellung bringe, Emilio García Silvero. Der ist derzeit Direktor der Rechts- und Complianceabteilung bei der Fifa und war somit federführend beteiligt an der Express-Suspendierung von Rubiales, die von dessen Lager als unüblich schnell und andauernd kritisiert wird. Was nicht alles so hinter einem Kuss steckt.
Die Seil- und Feindschaften im spanischen Fußball haben eines gemein: Frauen kommen in ihnen praktisch nicht vor. Und bei allem Furor über Rubiales lässt sich nicht erkennen, dass dies in Frage gestellt würde. Rocha entschuldigte sich am Donnerstag bei Englands Wiegman für die Vorfälle vom Finale. Seinen Frauentrainer Jorge Vilda, einen Rubiales-Intimus, hat er bisher nicht entlassen. Dem Männercoach Luis de la Fuente stärkte er den Rücken, obwohl auch der zu denen gehörte, die Rubiales’ surrealen Kampfauftritt am vorigen Freitag („Ich trete nicht zurück, ich trete nicht zurück, ich trete nicht zurück“) mit loyalem Applaus bedachten.
Was bleibt also von dem infamen Kuss, der die Welt beschäftigt? Wird sich wirklich etwas ändern? Im großen Ganzen, wo Nationalspielerinnen in Afghanistan, Haiti oder Sambia – und das sind nur die bekannten Fälle – wohl ungleich Schlimmeres erlebt haben als Hermoso, nämlich Vergewaltigung? Und im großen Kleinen – dem spanischen Fußball? Dem System, das Luis Rubiales produzierte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett