Fußball-WM in Verruf: Brot und Spiele
Sportlichen Großereignissen wird Volksverdummung nachgesagt. Doch Sport ist immer egalitär. Das Problem sind die, die nicht die WM schauen.
![](https://taz.de/picture/101609/14/brotundspiele1107_dpa.jpg)
Der Vorwurf ist fast 2.000 Jahre alt: Ängstlich und unpolitisch sei das römische Volk geworden, klagte der Dichter Juvenal, nur noch für Brot und Spiele interessiere es sich – die Machthaber hätten leichtes Spiel, wenn sie nur die niederen Instinkte der Massen bedienten.
Auch in den klassischen Diktaturvisionen Aldous Huxleys („Schöne Neue Welt“, 1932) und George Orwells („1984“, 1949) bedienen sich die Machthaber nicht zuletzt des Entertainments, um das Volk – bei Orwell die Proles – zahm und ungefährlich zu halten. Fressen, ficken, fernsehen, sagt man heute.
Ist es also das, was wir in den vergangenen vier Wochen dieser Fußballweltmeisterschaft in Brasilien erlebt haben? Haben wir einer gigantischen Maschinerie beigewohnt, deren einziges Ziel es ist, gemeinschaftliche Emotionen in falsche Bahnen zu lenken und Widerspruch gar nicht erst aufkommen zu lassen?
Vier Wochen, in denen Fußball geschaut wurde, statt die Flüchtlinge in Berlin-Kreuzberg zu unterstützen, in denen über Suarez’ Beißattacke diskutiert wurde, statt für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu demonstrieren, in denen die „nationale Schmach“ der Brasilianer bejubelt oder beweint wurde, statt sich über die wahrhaftige Demütigung der Bundesregierung durch die USA aufzuregen?
Anfällig und verdächtig
Das mag einleuchtend klingen, aber es ist tatsächlich Unsinn. Denn es ist einerseits viel schlimmer: Kein Mensch mehr hätte gegen die Räumung der von Flüchtlingen besetzten Schule in Kreuzberg protestiert, wenn es abends keinen Fußball gegeben hätte, und am Brandenburger Tor würden auch dann nicht Tausende gegen Fracking demonstrieren, wenn dort nicht gerade Fanmeile wäre.
Und es ist, andererseits, arrogant: Als ob der Fußballfan auch nur irgendwie besser prädestiniert dafür wäre, gesellschaftliche Missstände nicht wahrzunehmen, als der Oberstudienrat, der seine Abende damit verbringt, Note für Note die Einspielungen der Beethoven-Sonaten von Artur Schnabel von 1932 bis 1935 mit denen von András Schiff von 2004 bis 2006 zu vergleichen.
Es gibt keinerlei Grund, denjenigen als sozial kompetenter und mündiger zu betrachten, der noch genau weiß, wer bei der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters im Oktober 1955 Mozarts „Kleine Nachtmusik“ dirigierte, als denjenigen, der sich an die Spieler erinnert, die dem HSV 1955/56 die Norddeutsche Meisterschaft erkämpften.
Warum ist es also immer Fußball, warum sind es immer sportliche Großereignisse, die den Verdacht der Volksverdummung auf sich ziehen? Zum einen weil sie in Versuchung führen. Olympia in Deutschland 1936, WM in Argentinien 1978 – das waren tatsächlich erfolgreiche Instrumentalisierungen. Und natürlich: Je mehr Menschen sich für ein Ereignis begeistern, desto anfälliger dafür und also verdächtiger erscheint es.
„Opium des Volkes“
Eine Schach-WM wird nun einmal nicht die Aufmerksamkeit erregen wie eine Fußballweltmeisterschaft der Männer. Fußball-WM und Olympia – es gibt nichts anderes, was überall auf der Welt gleichzeitig beobachtet wird. Wir haben von den Anschlägen der Boko Haram auf Public-Viewing-Veranstaltungen in Nigeria gehört und davon, dass nichts außer Fußball die ethnischen, sozialen und religiösen Trennlinien der Nigerianer überwindet.
Wir haben gehört, wie im Gazastreifen am Mittwochabend neun Palästinenser starben und 15 weitere verletzt wurden, als eine israelische Bombe das Fun-Time-Beach-Café traf, wo die Menschen das Spiel zwischen Argentinien und den Niederlanden verfolgten. Zur gleichen Zeit brachten sich in Tel Aviv die Menschen in Sicherheit, als Sirenen sie vor herannahenden Kassam-Raketen warnten. Man könnte es so sagen: Das Problem sind nicht die, die Fußball schauen, es sind die, die das nicht tun.
Eine Fußballweltmeisterschaft beschäftigt die Menschen, ja. Sie lenkt auch ab – und manchmal ist das auch gut so. Der brasilianische Verteidiger David Luiz sagte nach dem 1:7 weinend in die Kameras, er habe den Menschen in Brasilien, die ohnehin so viel zu leiden hätten, Freude bereiten wollen, und entschuldigte sich. Luiz hatte 2013 die großen Volksproteste offen unterstützt.
Sport, gerade Fußball, ist sozial durchlässiger als die meisten anderen Lebensbereiche. Auf dem Platz zählt nicht, ob die Eltern des Spielers reich oder arm sind. Sport ist per se egalitär – und so sollte er auch organisiert sein. Das hieße, dass in Zukunft eine WM in Brasilien so wird, wie die Brasilianer sie ausrichten würden, nicht, wie die Fifa es vorschreibt. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, statt dünkelhaft über den Fußball als „Opium des Volkes“ zu mosern.
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