Fussball-WM in Mexiko: Ausnahmezustand mal anders

Die Fans können es anfangs kaum glauben, dass ihre Mannschaft Deutschland besiegt hat. Jetzt scheint sogar das Viertelfinale möglich.

Fans in Mexiko-City feiern den Sieg ihrer Mannschaft

Fans in Mexiko-Stadt feiern den Sieg ihrer Mannschaft Foto: dpa

MEXICO-STADT taz | Selbst die Seismographen spielten verrückt: Um 10.37 Uhr meldete das Geologische Institut SIMMSA via Twitter ein Erdbeben in Mexiko-Stadt. Das war genau zwei Minuten, nachdem Hirving „El Chucky“ Lozano den Ball an Manuel Neuer vorbei ins deutsche Tor schoss.

Die rund 75.000 Fans der mexikanischen Mannschaft, die sich vor einer Großleinwand im Herzen der Hauptstadt versammelt hatten, brachten mit ihren Sprüngen die Erde zum Wackeln – und die Detektoren zu Ausschlagen. Kein Beben, aber ein bisschen Bewegung. „Gooooooooooooool“ schallte es in diesem Moment über den Zócalo, den zentralen Platz der Metropole. Manche brüllten schlicht „Mexiko“, andere hielten sich an den Satz des Revolutionärs Pancho Villa: „Viva México, cabrones“, „Es lebe Mexiko, ihr Mistkerle.“

Noch immer wollte niemand glauben, was da gerade geschehen war: Die Tri, wie die mexikanische Auswahl genannt wird, war auf dem besten Wege, dem Weltmeister Deutschland eine Niederlage zu verpassen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt weiterhin damit zu rechnen war, dass die deutsche Mannschaft noch groß aufspielt und das Duell doch so endet, wie alle befürchtet hatten.

Das ist bekanntlich nicht passiert, doch viele Mexikanerinnen und Mexikaner brauchten erst einmal einen Moment, bevor ihre Verwirrung unbändiger Freude wich. Kurz darauf zogen Tausende vom Zócalo zur Unabhängigkeitsstatue an der Prachtstraße Reforma. „Wo sind sie, die Deutschen, die uns besiegen wollten“, riefen sie.

In zahlreichen anderen Städten Mexikos fuhren Fans hupend und feiernd durch die Straßen. Die einen trugen Sombreros, lärmten mit Trillerpfeifen, andere trommelten, sangen die Nationalhymne und schwenkten die mexikanische Flagge. Ausnahmezustand einmal anders in einem Land, dessen Stimmung meist von Meldungen über Morde, Raubüberfälle und korrupte Geschäfte geprägt ist.

„Nie hätten wir gedacht, dass wir gegen die Deutschen gewinnen“, freut sich José Enrique Cobarís, „wir hatten großen Respekt vor den deutschen Spielern.“ Sein unerschütterlicher Glauben an das Gute und sein mexikanischer Stolz hätten ihn immer auf einen Sieg hoffen lassen, ergänzt Gibran Vázquez, aber er habe nie wirklich damit gerechnet.

Im Achtelfinale ausgeschieden

Jetzt ist er optimistisch: „Ich hoffe, dass Mexiko auch ins Viertelfinale kommt.“ Ein Ziel, von dem viele seit Sonntag träumen. Bislang ist die Tri bei Weltmeisterschaften immer spätestens im Achtelfinale ausgeschieden.

Auch in diesem Jahr standen die Zeichen nicht auf Erfolg. In ihren Freundschaftsspielen gegen Schottland und Dänemark hatte die Tri nicht gerade geglänzt. Die Mitvierzigerin Maria Guadalupe sprach deshalb am Sonntag sogar von einem „Tag, der in die Geschichtsbücher eingehen wird“. Wie viele Mexikaner hatte sie das Spiel mit der Familie zuhause im Fernseher gesehen, denn in dem lateinamerikanischen Land war am Sonntag Vatertag.

Enrique León tanzte indes glücklich in der Kneipe, nachdem die mexikanischen Spieler die letzten Sekunden der Verlängerung erfolgreich hinter sich gebracht haben. Noch zwei Stunden vorher hatte er der Tri gegen die Deutschen keine Chance eingeräumt. Er war sehr schlecht auf die Mannschaft zu sprechen.

Und mit ihm, ist er überzeugt, ein großer Teil seiner mexikanischen Mitbürger. „Die Selección hat in den letzten Wochen dasselbe Bild abgegeben wie unsere Politiker“, erklärte er. „Sie feiern, sind korrupt und verschleudern Geld“.

Skeptische Haltung

Zu dieser skeptischen Haltung hat nicht zuletzt jene Geburtstagsfeier des Ex-Leverkuseners Javier „Chicharito“ Hernández beigetragen, auf der es die Mannschaft während der WM-Vorbereitungen reichlich krachen ließ. Angeblich soll bei der Party auch bezahlter Sex von 30 Escort-Damen im Spiel gewesen sein. Das zumindest berichtete die mexikanische Zeitschrift „TV Notas“ und lieferte damit Material für einen handfesten Skandal.

Als dann auch noch Bilder die Runde machten, die die Spieler nach der „Orgie“ der ordentlich trainierenden deutschen Elf gegenüberstellten, war klar, was man von Selección zu halten hatte. Doch seit dem gestrigen Nachmittag scheint die Party niemand mehr zu stören. Im Gegenteil. „Offensichtlich hat ihnen das Feiern Glück gebracht“, sagt Maria Guadalupe. „Die Deutschen sollten sich ein Beispiel nehmen“.

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Nun berichten mexikanische Medien mit großem Mitgefühl über die Freudentränen, die Chicharito nach dem Abpfiff vergossen hat. Auf Twitter machte ein Bild die Runde, das Mexikos Torwart Guillermo Ochoa als Heiligen zeigt. „Dies ist die einzige Mauer, für die Mexiko bezahlt“, twitterte ein Fan mit einem Foto, das ebenfalls den Torhüter zeigt und auf die bizarren Pläne des US-Präsidenten Donald Trump verweist, an der mexikanischen Grenze eine Mauer zu bauen.

Auch Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto meldete sich über den Kurznachrichtendienst zu Wort und gratulierte der Tri: „Es ist bestätigt: Mexiko kann mithalten und gewinnt gegen die Besten der Welt.“

Wenige Tage vor dem Duell brachte der mexikanische Schriftsteller und Fußball-Experte Juan Villoro im Online-Sender Aristegui seine Skepsis zum Ausdruck. Angesichts der Dominanz der Deutschen hänge es wohl mehr von Mexikos Schutzheiliger, der Jungfrau von Guadalupe, als von den Spielern ab, ob das Team gewinne, sagte er. „Aber der Fußball existiert ja, um Wunder zu erwarten.“

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