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■ Fünfziger JahreRomantik zwischen Trümmern

Der „Postminister“ betrat den Ester-Hazy-Keller, und der Mann am Klavier spielte „Ich bin die Christel von der Post“. Das hatte seinen guten Grund. Erhard Günzler, der Verwaltungsangestellte der Deutschen Post, genannt auch der „Postminister“, war Stammgast des Künstlerlokals an der Ecke Friedrichstraße/Linienstraße. Und jeder Stammgast hatte seine Erkennungsmelodie.

Erhard Günzler (76) kommt ins Schwärmen, wenn er von den 50ern erzählt. Der Krieg war zu Ende, das Leben konnte wieder beginnen, und er endlich seine Homosexualität ausleben. Natürlich in den Lokalen. Manchmal in den eleganten im Westteil der Stadt, aber für einen, der aus dem Osten kam, war das oft zu teuer. „Da nuckelte man den ganzen Abend an einem Bier.“ Erhard Günzler blieb im Osten, vergnügte sich in der G-Bier-Bar, im Albrechtseck oder in der City-Klause so nach dem Motto „Jetzt leben wir endlich“; und manchmal auch in den Schwimmhallen, auf der Treppe des Berliner Doms und mitten in den Ruinen und zwischen den Trümmern. „Das war romantisch.“

Apropos Romantik. Erhard Günzler erzählt vom Rosengarten, „dem romantischsten Treffpunkt im Berlin der 50er Jahre“. Im Rosengarten, da, wo heute der Fernsehturm steht, traf sich in lauen Nächten und bei Mondschein die Pfennig- Bande – Jungs im weißen Fummel, nicht älter als 17, die als Erkennungszeichen eine Kette mit einem Pfennig trugen und die von Liebhabern schwärmten und Hochzeit spielen wollten. Anastasia war der Bandenchef und der Pfarrer; sie traute die Jungs auf der Domtreppe.

Die Strichjungs. Auch so ein Thema der 50er Jahre. „Die einfachen Jungs wollten schnelles Geld verdienen“, sagt Erhard Günzler. 2,50 Mark („damals viel Geld“) nahmen sie für kurzes Wichsen im Hausflur; ein Freier, der mehr wollte, mußte auch mal 30 Mark hinblättern. Für eine Nummer in den Ruinen verlangten die Jungs zwischen 10 und 15 Mark.

Als die vielleicht „schönsten Jahre seines Lebens“ bezeichnet Erhard Günzler die 50er Jahre. 1948 hat er den Demokratischen Jugendverband mitbegründet, eine Gegenbewegung zur FDJ. „Es ging um Politik“, sagt Erhard Günzler, „für einige Gruppenleiter aber auch um die Liebe zu Jünglingen und Knaben.“ Die wurde ausgelebt in den Zeltlagern. „Die Homoerotik war ein gutbehütetes Geheimnis.“

Es gäbe noch viel zu erzählen von den 50ern. Die Episode vom Sportverein SG Wissenschaft beispielweise. Die Jungliebhaber vom Prenzlauer Berg hatten die SG einfach erfunden, um die Wirtin eines Sportlerlokals zu überzeugen, ihnen einmal in der Woche einen Raum zur Verfügung zu stellen. Sie tat es, und die Jungs tranken, tanzten und flirteten – immer am Sonntag nachmittag. Jens Rübsam

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