: Fünf „S“ oder die Kunst, Sprache zu sehen
■ Die in Hamburg lebende japanische Schriftstellerin Yoko Tawada glaubt, dass kulturelle Unterschiede nur konstruiert sind. Am Wochenende liest sie in Bremen
Wenn Sie heute schon draußen waren, sind Sie an diversen Plakatwänden vorbeigelaufen. Erinnern Sie sich, wie oft der Buchstabe „S“ auf dem Plakat vorkam. „Ich blickte jeden Tag auf die Plakate vor der Bushaltestelle und las niemals die Namen der Produkte“, schreibt die 1960 in Tokyo geborene Yoko Tawada zu Beginn ihres Essays „Das Fremde aus der Dose“. „Ich weiß nur, dass auf einem der schönsten Plakate von ihnen siebenmal der Buchstabe S auftauchte.“ Die Welt, der sich Tawada, die seit Anfang der 80er in Hamburg lebt, schreibend annähert – in Gedichten, Stücken, Erzählungen und Essays – ist eine Welt aus Buchstaben, genauer gesagt aus Zeichen, unlesbaren zumeist oder solchen, die eher die Möglichkeit des Miss-, des Andersverstehens mit sich führen.
Die Städte: Text. Die Körper: Text. Und die Gesichter, hier, in Deutschland, wo „Schweigen verboten“ ist: „Als Physiognomiker liest Benjamin die Gesichter von Gegenständen, Traumbildern und Architektur als mehrdeutige Dinge, verwandelt sich die Dingwelt in literarische Texte.“ Tawadas Texte sind poetische Gebilde, hochkomplex und bisweilen von einem komisch-grotesken Unterton getragen. Reflektierend erschaffen sie eine zweite oder dritte Welt, stets in der Gewissheit, dass auch die so genannte erste nicht wirklich die erste ist. Postmodernes Parlando, unterhaltsam, faszinierend und elegant, weil Theorie nie zur Mode, nie ganz dem Sinn fürs Fabulieren Herr wird.
Nun schreibt Yoko Tawada nicht in selbstreferenziellen Zirkeln über das Schreiben allein. Das Schreiben (und das Lesen) von Zeichen, ihre Beziehung zu den Lauten (und also zur gesprochenen Sprache) ist nie lauer Aufguss von Zeichentheorie. Immer geht es um Wahrnehmungen, die oft kaum verschlüsselt die Wahrnehmungen der Autorin selber wiederzugeben scheinen, aus Japan nach Deutschland kommend, was bei ihr heißt: von einer Fremde in die nächste. „In meinem ersten Jahr in Deutschland schlief ich täglich über neun Stunden, um mich von den vielen Eindrücken zu erholen. Jeder Büroalltag war für mich eine Kette rätselhafter Szenen.“ Das Geschehen wirkt auf den fremden Körper, drückt ihn ein. Jemand versteht sprichwörtlich die Welt nicht mehr. Doch ist das nur der Anfang, denn stets folgt die Frage, wie eigen und wie verständlich die andere, die uns fremde Welt war, also Beispielsweise Japan. In einem Gespräch hat Yoko Tawada das einmal einen „fiktiven fremden Blick“ genannt. Sie betont, dass sie kulturelle Differenzen nur konstruiere, denn: „Die zwei Kulturen gibt es nicht.“
Yoko Tawada hat je eine Hälfte ihres Lebens in Japan und der Bundesrepublik gelebt. Sprache aber legt man nicht ab, wie man den Wohnort wechselt, auch nicht über Kontinente hinweg. Und auch die zuerst gelebte Sprache, die man Muttersprache nennt, ist nicht immer und jederzeit verfügbar. Yoko Tawada lebt zwischen, besser: in zwei Sprachsystemen. Entgegen dem ersten, irritierten Eindruck, war es vielleicht doch keine schlechte Idee, ausgerechnet Tawada auch am kommenden (sehr durcheinanderen) deutsch-japanischen Sonnabend in Vegesack lesen zu lassen. Zwischen Bonsai und Reiswein. Tim Schomacker
Yoko Tawada liest am Freitag, 20. April, um 20 Uhr in der Villa Ichon, Goetheplatz 4 aus „Verwandlung“ und am Sonnabend um 17 Uhr beim Fest „Japan erleben“ im Gustav-Heinemann-Bürgerhaus in Vegesack aus „Opium für Ovid“.
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