: Frühlingsgefühle für die Ohren
Der Deutschlandfunk sendet sechs Sendungen über Sex – und provoziert damit seine konservativen Stammhörer
Mark Twain bekannte sich öffentlich zur Selbstbefriedigung. So albern fand er die Angst seiner Zeitgenossen vor den verderblichen Auswirkungen der Onanie, dass er Prominenten Zitate zum Thema einfach in den Mund schob. So habe Königin Elisabeth die Onanie als ein Bollwerk der Jungfräulichkeit bezeichnet, denn sie bewahrt vor dem Drang nach frühem Geschlechtsverkehr. Und Zulu-Held Cetewayo ließ er sagen: „Ein Schwanz in der Hand ist besser als zwei Tauben im Busch.“
Twain war eben noch locker. Heute finden sich seine „Gedanken zur Wissenschaft des Onanismus“, die er 1879 in Paris vortrug, in fast keiner Ausgabe. Während auf den Leinwänden und Bildschirmen nicht genug nackte Haut gezeigt werden kann, sind die inzwischen komisch anmutenden Äußerungen von Schriftstellern und Intellektuellen zur Selbstbefriedigung von den Lektoren der Verlage fast vollständig getilgt.
Rolf Cantzen hat sie wieder ausgegraben und für sein Radiofeature „Sex mit jemanden, den ich wirklich liebe“ noch einmal vortragen lassen. Mit der gebotenen Ironie kommen Rousseau, Kant, Hölderlin und Nitezsche zu Wort. Der Beitrag läuft am 13. Mai und ist Teil der Sendereihe Ohrlust, die bereits morgen auf Deutschlandfunk beginnt.
Sechs Geschichten über Sex hat die Redaktion Freistil produziert. Mutig! Denn das Publikum des Rundfunksenders gehört eher zur älteren und konservativen Generation. Und Onanie ist nun mal auch heute kein Thema gepflegter Abendkreise. So deftig wie bei Twain geht es aber nicht immer zu. Morgen verführt Jürgen Thie die Hörer in das Reich des wichtigsten und oft unterschätzten Erotikons: der Stimme. „Wenn ich dich höre, schmelz’ ich dahin“ heißt seine Sendung. Thie lässt einen Redakteur, eine Filmemacherin, eine Seminarleiterin, eine Kulturwissenschaftlerin und einen Aufnahmeleiter definieren, was für sie eine erotische Stimme ausmacht. „Stimme ist etwas anderes als das Wort“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Es sei wie mit der Katze Cheshire bei Alice im Wunderland. „Stimme ist das Lächeln, das bleibt, wenn die Katze verschwindet.“
Thie gibt keine endgültige Antwort, wann eine Stimme erotisch ist, sondern lässt dem Klang sein Geheimnis. Er hat stattdessen die Definitionen mit Anekdoten, historischen Klängen, literarischen Aufnahmen, Stöhnen und Seufzen zu einer Collage gemischt, so dass jeder selbst sein Geräusch finden kann, das ihn schauern lässt.
So mag es den einen an- und den anderen Angst machen, wenn Profisprecher Rolf Schult verraucht, müde und doch lebendig Joachim Ringelnatz rezitiert: „Weißt Du noch, wie wir es trieben, was nie geschildert werden darf? Heiß, frei, besoffen, fromm und scharf.“
An der ersten Sendung der Reihe Ohrlust wird deutlich: Geht es um Sex, ist das Radio dem Fernsehen überlegen. Es braucht keinen Voyeurismus, keine Bilder, kann mit Ironie arbeiten und fordert Fantasie. Bei Ohrlust kann man auf der Couch liegen, zuhören, kuscheln und schmunzeln. Erotik ist Geräusch. Aber Geräusch ist nicht immer Erotik. Telefonsex-Stimmen zum Beispiel vermittelten nur ein Klischee von Erotik. „Sie sind nur so, wie auch der Sex ist“, sagt die Seminarleiterin: „Bemüht.“ Für die Sendung kann man das nicht sagen. Gelungen. RALF GEISSLER
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