Früher Roman von James Baldwin: Eine Kindheit in New York
Das Frühwerk „Von dieser Welt“ des Schriftstellers James Baldwin ist das Comingout eines Einzelgängers und eine Abrechnung mit der schwarzen Kirche.
Es wäre falsch, James Baldwin einen Außenseiter zu nennen. Dafür hatte er zu viele Freunde, bedeutende Freunde, die sein Denken und Schreiben schätzten. Martin Luther King und Malcolm X etwa. Auch hatte er ein gutes Verhältnis zur Musikerin Nina Simone. Schriftstellerin Maya Angelou nannte ihn eine Inspirationsquelle. In einer politisch turbulenten Zeit, den 1950er und 1960er Jahren, bewies der US-Schriftsteller unvergleichliche Schärfe und Eloquenz bei Fernsehdiskussion, engagierte sich intensiv für die Bürgerrechtsbewegung. Und doch zog Baldwin es vor, einen Großteil seines Lebens im Exil in Europa zu verbringen und den Veränderungen in seiner Heimat aus der Ferne zu folgen. Er trat keiner der tonangebenden politischen Organisationen seiner Zeit bei. Er blieb ein Einzelgänger.
Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, weshalb es dauerte, bis Baldwin, der 1987 starb, wiederentdeckt wurde. In den USA dank Black Lives Matter und schwarzen queeren Kreisen. Und in Deutschland erst jetzt. Letztes Jahr kam mit Raoul Pecks „I Am Not Your Negro“ ein umwerfendes Filmporträt Baldwins ins Kino, nachdem man sich in den brillanten, charismatischen und verletzlich wirkenden Schriftsteller einfach verlieben musste. Regisseur Peck verortete Baldwins Werk im Heute und vermengte sein letztes, unveröffentlichtes Manuskript mit Bildern von den Protesten in Ferguson.
Und nun ist auch Baldwins Debütroman „Go Tell It On The Mountain“ in hervorragender deutscher Neuübersetzung erschienen, unter dem Titel „Von dieser Welt“ (dtv, 2018). Das Timing ist geschickt, doch wer nach den Thesen aus Pecks Film sucht, wird in „Von dieser Welt“ kaum fündig. Baldwin geht es hier weniger um Solidaritätsformen als um die Unmöglichkeit eines Kollektivs: Vier Figuren ringen mit ihrem Glauben und mit sich selbst.
„Von dieser Welt“ ist eine halbbiografische Emanzipationsgeschichte voller schwacher Männer und abgehärteter Frauen. Der gewalttätige Stiefvater, die alleinstehende Tante, die liebevolle Mutter – alle Figuren scheinen Ebenbilder in James Baldwins eigener Lebensgeschichte zu haben. Im Zentrum steht eine Kindheit in Harlem oder viel eher ein einziger Tag. Es ist der 14. Geburtstag von Protagonist John, der wie sein Vater Prediger werden soll, doch genau an diesem Tag feststellt, dass er dies nicht will. John ist außergewöhnlich klug, in einen jungen Mann verliebt und verabscheut seinen Vater (der sich erst später als sein Stiefvater herausstellt). Nach und nach werden Herkunft und Lebenslügen von Johns Familienmitgliedern aufgearbeitet, die allesamt aus den ehemaligen Südstaaten nach New York gezogen sind. Es ist die Zeit der sogenannten Great Migration, zu deren Beginn etwa 10 Prozent der schwarzen US-Bevölkerung im Norden der USA lebte – fünf Dekaden später waren es 40 Prozent.
Harlem platzt aus allen Nähten
Auch Baldwin wächst in Harlem als Sohn einer Familie aus dem Süden auf. Das nördliche Viertel Manhattans platzt zu dieser Zeit aus allen Nähten, wird zum kreativen Zentrum schwarzer Künstler*innen und Autor*innen. Doch Baldwin will nichts wie weg von dort. Das Harlem seiner Kindheit hat nichts mehr gemein mit dem romantischen Ort in Langston Hughes’ Gedichten aus der Blütezeit der sogenannten Harlem Renaissance in den 1920er Jahren. Auch war das Viertel noch kein zentraler Schauplatz der Bürgerrechtsbewegung wie in den 1960er Jahren. „Ganz Harlem ist durchzogen von einem Gefühl der Überlastung, wie das hartnäckige, unerträgliche, klaustrophobische Stampfen im Schädel, wenn man versucht, in einem sehr kleinen Raum zu atmen und alle Fenster geschlossen sind“, schreibt Baldwin in einem seiner frühen Essays.
Dass Baldwin in Harlem keinen Berührungspunkt zur Intellektuellenszene findet, hat auch mit seiner sozialen Herkunft zu tun. Die schwarze Mittelschicht, die sich dort bildet, bleibt unter sich im abgeschiedeneren Sugar Hill. Baldwin kommt aus dem ärmsten Teil Harlems, östlich der Lennox Avenue. Klasse wird ein bestimmendes Thema seiner Romane, Kurzgeschichten und Essays bleiben. Erst zieht Baldwin nach Greenwich Village. Dann landet er mit 24 Jahren und 40 US-Dollar in der Tasche in Paris – dem europäischen Anziehungspunkt für afroamerikanische Intellektuelle. Auch die Kriegsheimkehrer erzählen, wie viel einfacher es sich als Schwarzer in Europa lebt. Baldwin wird den Rest seines Lebens im Exil verbringen, neben Paris auch in der Schweiz und in Istanbul. In Frankreich schreibt Baldwin seinen ersten Roman – über seine Herkunft, über Harlem.
„Von dieser Welt“ führt an staubige Altäre, tränenreiche Gospelabende und tödlich endende Liebesbeziehungen. Das Buch ist eine Abrechnung mit der schwarzen Kirche, deren Erzählungen die Lebenswelt prägten, in der er aufwuchs. So bleibt selbst die Kritik an ihr in biblischer Sprache, die Möglichkeit eines alternativen Lebens scheint so anziehend wie beängstigend.
Baldwin imaginiert in dem Roman auch den Süden der USA, den er selbst nie kennengelernt hat, von dem aber die Bitterkeit seiner Familie geprägt ist. In den noch bis 1965 von rassistischen Jim-Crow-Gesetzen beherrschten Staaten hängen schwarze Männer von Bäumen und schwarze Frauen werden nachts auf Felder verschleppt. Er beschreibt auch, wie Überlebende, vergewaltigte Frauen etwa, innerhalb der schwarzen Community geächtet werden: „Wenn Männer Deborah musterten, sahen sie nur ihren reizlosen, geschändeten Körper. In ihren Augen hatte sich eine lüsterne, verlegene Neugier auf jene Nacht in den Feldern eingenistet. Diese Nacht hatte ihr das Recht genommen, als Frau zu gelten.“
Erweckungserlebnis Kino
Baldwins Harlem bietet ebenfalls wenig Schutz. Es ist der Ort, an dem Migrant*innen aus dem Süden ankommen, von dem aber deren Kinder wiederum Auswege suchen. In einer Schlüsselszene macht sich der jugendliche Protagonist John mit dem bisschen Geld, das er zum Geburtstag bekommen hat, auf den Weg über den Central Park nach Downtown Manhattan. Baldwins Schilderung von diesem Spaziergang in eine andere Welt aus Menschen mit Seidenkleidern und Schmuckschatullen hat etwas Magisches. Doch das eigentliche Erweckungserlebnis ereilt John dann im Kino.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auf der Leinwand findet er seine einzige Identifikationsfigur, eine trinkende und fluchende weiße Prostituierte: „Diese kleine, nicht mal hübsche Frau stolzierte mit einem so rabiat ruchlosen Schwung durch neblige, kalte Straßen, als würde sie der ganzen Welt sagen: Ihr könnt mich mal … Er wollte sein wie sie, nur mächtiger, gründlicher und grausamer, um alle jene um ihn herum, alle, die ihn verletzt hatten, leiden zu lassen.“
„Von dieser Welt“ ist ein mutiger Roman, eine Art Comingout, wenn auch nicht so explizit und aufsehenerregend wie der Nachfolger „Giovanni’s Room“ (1956) oder so hochpolitisch wie sein Bestseller „Another Country“ (1962). Das Debüt erklärt aber, wieso Baldwin trotz ähnlichen Anliegen keiner politischen Vereinigung beitreten wollte. Er unterstützte Martin Luther King, aber nicht dessen Kirchengemeinde. Er verehrte Malcolm X, hielt aber nichts von dessen Separatismus. Baldwin entwickelte seine eigene Position, die Anknüpfungspunkte bot, meist aber zu einer selbstgewählten Isolation führte.
In dem Essayband „Fire Next Time“ (1963) berichtet Baldwin von einer Begegnung mit Elijah Muhammad, dem Führer der Nation of Islam. Auf die Frage nach seiner Religionszugehörigkeit antwortet Baldwin zögerlich: „Nichts. Ich bin ein Schriftsteller. Ich mag es, Dinge allein zu tun.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten